Neuanfang: Wie wir eine Krise als Chance nutzen

Koordinatensystem

Wenn wir vor einem Neuanfang stehen, sind wir oft einmal orientierungslos. Dies gilt auch für Beziehungen. Manch einer gerät in eine persönliche Krise, wenn eine Beziehung zu Ende geht. Für sich selbst ein Koordinatensystem abzustecken kann helfen, neue Wege zu finden und erste Schritte zu gehen.

Veränderungen machen oft Angst

Veränderungen machen oft Angst. Aus diesem Grund lassen wir die Dinge häufig lieber wie sie sind. Das gilt auch für Beziehungen. Oft auch für unbefriedigende, unglücklich machende, dysfunktionale Beziehungen. Wir leiden; doch was wir haben, kennen wir. Was wir kennen, scheint uns sicherer als das Unbekannte – es könnte ja noch schlimmer kommen.

Manchmal jedoch geraten wir in Krisen. Wir befinden uns plötzlich in Situationen, die uns entgleiten. Vielleicht haben wir sie selbst herbeigeführt, vielleicht auch nur unseren Teil dazu beigetragen. In manche geraten wir ganz unverschuldet (z.B. durch den Tod eines geliebten Menschen). Auch wenn wir uns selbst für die Auflösung einer Beziehung entschieden haben, weil es einfach so nicht weitergehen konnte, können wir in eine persönliche Krise geraten.

Der Boden scheint uns buchstäblich unter den Füßen weggerissen, wir verlieren den Halt. Wir befinden uns gefühlsmäßig in einem Dschungel, in dem wir Gefahr laufen, die Orientierung zu verlieren. Wir werden aus gewohnten Zusammenhängen und Abläufen und vielleicht auch aus weiteren zwischenmenschlichen Verbindungen gerissen.

Egal, ob diese Veränderungen von uns initiiert wurden oder nicht, in solchen Krisen brauchen wir Mut. Mut, den wir der Angst entgegenstellen können. Mit diesem Mut eröffnen wir uns die Möglichkeit, die Krise zu einer Chance werden zu lassen: Einer Chance zur Veränderung. Einer Chance für persönliches Wachstum.

Mut zu haben bedeutet erst einmal, die Herausforderung anzunehmen.

Schritte persönlicher Veränderung

Manch einer mag sich fragen: Wie erlange ich diesen Mut? Aus therapeutischer Sicht ist es hilfreich, einige der Schritte etwas näher zu betrachten, die zu persönlicher Veränderung führen können und diejenigen Prozesse ins Auge zu fassen, die förderlich sind, um missliche Lagen als Chance zu nutzen. Sie sind sozusagen die Koordinaten an die wir uns immer wieder halten können, wenn wir Orientierung suchen.

Achtsam sein, Schmerz annehmen, Klarheit gewinnen

Als erstes ist es wichtig, sich darüber klar zu werden, was gerade passiert, hier, jetzt, in dem Moment, wo wir den Boden unter den Füßen zu verlieren glauben. Achtsam sich selbst zu betrachten. Vielleicht können wir uns eingestehen, dass wir gerade einen Verlust erleiden (auch wenn eine Trennung vielleicht befreiend wirkt, bedeutet das Realisieren, in einer Beziehung gescheitert zu sein, oft einen großen Verlust: den Verlust einer Hoffnung, eines Bezugssystems, manchmal eines Lebensplanes). Dann können wir den Schmerz darüber annehmen. Schmerz anzunehmen heißt nicht, ihn mit einem „Hurra!“ willkommen zu heißen oder umgekehrt, darin zu versinken. Schmerz anzunehmen bedeutet, wahrzunehmen, dass mir da etwas wirklich weh tut. Dieses eingestehende „ja, so ist das“, das wertfreie Beobachten dessen, was ist, lässt uns Abstand nehmen, führt uns zu größerer Klarheit. Diese Klarheit bedeutet auch, sich bewusst zu werden, dass alles, was lebt, im Wandel ist. Dinge verändern sich. Auch unsere Beziehungen, auch wir selbst. Achtsam sein mit uns selbst hilft uns, die Situation, in der wir uns befinden und uns selbst, mit unserer Angst, mit unserem Schmerz zu akzeptieren und anzunehmen. Achtsam sein bedeutet in diesem Moment, auch die bestehenden Probleme nicht zu verdrängen, sich andererseits auch in diesen nicht zu verlieren – aber: sie zu betrachten, zu versuchen sie zu benennen, um dann, aus der entstehenden Distanz heraus, feststellen zu können, was wir brauchen und wollen oder eben nicht mehr wollen.

Akzeptanz

Akzeptanz ist ein weiteres wichtiges Element für Veränderung. Sich selbst zu akzeptieren, aber auch den Anderen. Mit allen Unzulänglichkeiten und Unmöglichkeiten. Wenn es uns gelingt, das Gute im Vergangenen zu würdigen und uns selbst und dem Anderen zu verzeihen, dann wird Loslassen möglich. Die Sicht, dass jeder Mensch in einem bestimmten Augenblick das Beste tut, was ihm in diesem Augenblick möglich ist, kann das Verzeihen erleichtern. Manchmal ist es (noch) nicht möglich, dem Anderen zu verzeihen, dann mag es hilfreich sein, sich selbst anzunehmen, als jemanden, der noch nicht verzeihen kann. Das Gute im Vergangenen würdigen, bedeutet nicht nur Dankbarkeit für die schönen Momente und für das, was wir erleben durften. Es bedeutet auch, die Lektionen zu achten, die uns das Leben gelehrt hat, wie auch die Person, die sie uns beigebracht hat. Wenn wir diese Dankbarkeit empfinden können, kann uns das in schwierigen Situationen helfen, uns den zu bewältigenden Aufgaben, dem Neuen zuzuwenden, statt dem Alten anzuhaften. Festhalten, Kontrolle und der Versuch zu manipulieren, bringen nur neuen Schmerz. Wenn es gelingt loszulassen, dann wird der Blick nach vorne frei.

Der Blick nach vorne bedeutet: Motivationen zu suchen, Ressourcen aufzuspüren, ein Ziel anzuvisieren.

Motivationen und Ressourcen suchen

Hier wird nun ganz wichtig, unsere Wahrnehmung auf das Hilfreiche, Förderliche, Vorwärtsbringende zu richten. Wir können Dinge und Situationen stets von verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Wir nehmen sie unterschiedlich war, je nachdem, worauf wir achten, welche „Brille“ wir tragen, wie wir das, was wir sehen bewerten.

Wenn mein Partner mich verlässt, weil er mich nicht mehr liebt, kann ich das als großes Unglück sehen, als Abwertung, als Verletzung, als Zeichen, versagt zu haben, nicht wertvoll  oder wichtig genug zu sein oder gar als Schande.

Ich kann es aber auch als Chance sehen, mir einen neuen Partner zu suchen, der besser zu mir passt, der mehr auf mich eingeht, mich mehr respektiert. Und mich befreit fühlen von einer unglücklichen Beziehung, die ich vielleicht selbst nie verlassen hätte. Vielleicht gelingt es mir sogar, mir bewusst zu machen, dass ich, obwohl mich mein Partner nicht mehr liebt, dennoch ein liebenswerter Mensch bleibe; und er auch.

Dies nur als Beispiele für Bewertungen, die wir vornehmen könnten. Was in jedem Fall zutrifft: wir werden uns entsprechend der vorgenommenen Bewertungen fühlen. Traurig, wütend, beschämt einerseits oder glücklich, gelassen, befreit andererseits.

Es ist also hilfreich, sich ein Bild zu machen darüber, wie wir uns unsere Wirklichkeit konstruieren. Das braucht etwas Übung. (Manche dieser Betrachtungsweisen werden uns vielleicht nie klar, wir betrachten schließlich gewisse Dinge schon einen großen Teil unseres Lebens in gleicher Weise!). In dem Moment, wo wir einen Neuanfang machen wollen, ist es aber äußerst wichtig, unsere Aufmerksamkeit auf solche Sichtweisen und Bewertungen zu richten. Wenn ich glaube, dass ich etwas schaffe, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass eben dies eintrifft um ein Vielfaches größer, als wenn ich von vornherein glaube, das was ich vorhabe, sei aussichtslos!

Wer erfolgreich neue Wege gehen will, richtet seinen Blick ganz bewusst auf das, was ihn unterstützt und motiviert, was ihm Halt gibt und Kraft. Was brauche ich gerade? Wie kann ich es erreichen? Was würde mir Freude machen, mich entspannen, was mir helfen, diese schwierige Aufgabe zu bewältigen? Welche Personen bauen mich auf, können mir als Vorbild dienen, welche Kontakte sollte ich im Augenblick eher meiden, weil sie mich zu viel Energie kosten? Welche Fähigkeiten habe ich, die mich weiterbringen? Welche Erfahrungen habe ich schon gemacht, die mir jetzt helfen können? Gab es schon ähnliche Situationen, die ich erfolgreich gemeistert habe und wie ist mir das gelungen?

Mit diesen Hilfen im Gepäck können wir unseren Fokus auf einen neuen Weg, ein neues Ziel richten.

Ein neues Ziel vor Augen

Wenn wir wissen, was uns stärkt, motiviert, Freude bereitet, dann ist das oft schon ein Hinweis darauf, wohin der Weg gehen soll. Sich konkret ein Ziel vor Augen zu halten, ist ein nächster Schritt. Denn: nur wenn ich ein Ziel habe, kann ich ein Ziel erreichen! Wo will ich enden? In welcher Situation, Umgebung, Gesellschaft, Beschäftigung? Welche meiner Eigenschaften und Vorlieben sollen Raum erhalten?Welche Werte sollen dort zum tragen kommen, welche Bedürfnissen soll Rechnung getragen werden? Allzu oft wurde vor der Krise nur der Frage gefolgt „Genüge ich?“. Die Fragen „Genügt es mir?“ oder „Was entspricht mir?“ sind aber genauso wichtig, wenn wir dauerhaft glücklich sein wollen. Nun ist Gelegenheit dazu, die Krise als Chance zu nutzen!

Wer erfolgreich Veränderungen vornehmen will, hat mit dem Annehmen der eigenen Persönlichkeit und dem Akzeptieren der Situation, dem Loslassen von dem, was loszulassen ist und dem Ziel vor Augen, wohin der Weg gehen soll, den hilfreichen Gedanken und der förderlichen Wahrnehmung schon ein taugliches Koordinatenpaket geschnürt, mit dem er sich auf den Weg begeben kann. Nun ist es wichtig, sich auch entschlossen in Bewegung zu setzen.

In Bewegung kommen

Etwas zu verändern, in Bewegung zu kommen, bedeutet: aktiv daran zu arbeiten. Wir selbst sind verantwortlich. (Egal, ob wir Schuld an Vergangenem haben oder nicht, für Zukünftiges tragen wir Verantwortung.) Das kann heißen: Kontakte knüpfen, um Hilfe bitten, Unterstützung organisieren, sich ablenken, wo Ablenkung kurzfristig nötig ist. Um dann wieder beherzt einen nächsten Schritt zu tun. Neue, ungewohnte, beängstigende Situationen aktiv anzugehen, braucht, wie gesagt, Mut. Gerade wenn Schritte anstehen, die uns Angst einflößen, müssen wir uns bewusst machen, dass Angst zurückweicht, wenn man ihr in die Augen schaut. Das bedeutet: Die Aufgabe als Herausforderung betrachten, statt als Bedrohung, um diese dann in „kleinen Portionen“ zu bewältigen. Kleine Schritte gehen! Mit jeder beängstigenden Situation, der wir uns einmal gestellt haben, wird es leichter.

Gnädig uns selbst gegenüber

Wenn wir merken, wir kommen nicht weiter, betrachten wir wiederum achtsam die Situation: Was passiert gerade? Wo habe ich einen nicht hilfreichen Blickwinkel eingenommen? Trage ich gerade die falsche „Brille“? Oder habe ich vielleicht noch nicht wirklich gesehen, was zu verändern ist? Vielleicht müssen wir uns auch wieder in Selbstakzeptanz üben und uns für den Moment eingestehen, dass wir uns das zwar wünschen würden, aber zu einem bestimmten Schritt noch nicht ganz bereit sind. Seien wir gnädig mit uns.

Wir brauchen nicht zu versuchen, etwas zu erzwingen. Tun wir die Schritte, die in dem Moment gerade etwas leichter fallen, werden die anderen folgen. Wir dürfen darauf vertrauen, dass gewisse Prozesse von selbst ablaufen, wenn wir sie zulassen. Immer im Bewusstsein, dass wir dahin kommen, wohin wir uns ausrichten, wohin wir steuern.

Wenn wir im Augenblick noch keinen Mut finden, nicht loslassen wollen, nicht verzeihen wollen, dann dürfen wir uns für den Moment getrost eingestehen, dass das so ist. Dann dürfen wir uns selber als jemanden akzeptieren, der noch nicht vorwärts gehen kann. Wertfreie Akzeptanz, dass gewisse Dinge sind, wie sie sind, schafft Klarheit. Klarheit ist der erste kleine Schritt zur Freiheit, Entscheidungen zu treffen.

Manchmal hilft es, auf dem Weg durch die Krise jemanden an der Seite zu haben. Einen Freund, ein Familienmitglied, einen Coach, einen Berater. Wohlwollende Unterstützung und der Blick von außen machen manche Schritte einfacher.

Doch manchen reicht die aussichtsreiche Perspektive, das Ziel am Ende des Weges, um den Mut zu fassen, die Herausforderung anzunehmen, die Veränderung zu wagen, sich auf den Weg zu machen, im Vertrauen darauf, anzukommen. Die Krise als eine Chance zu nutzen.

Das Leben ist bunt – Wie Dankbarkeitspraxis Freude in Dein Leben bringt

Dankbarkeitspraxis ist kein Sich-das-Leben-schön-reden. Das zeigt allein schon die Wirksamkeit von Dankbarkeit. Eine rosa Brille verschleiert den Blick. Dankbarkeitspraxis macht ihn klar. Eine regelmäßige Dankbarkeitspraxis eröffnet Möglichkeiten, unser Leben und unsere Beziehungen aktiv zu verbessern. Sie freundlicher, freudiger, verbundener und bunter zu gestalten.

Wie funktioniert Dankbarkeitspraxis?

Unser Hirn arbeitet unabläßig. Unser Geist produziert pausenlos Gedanken. Viele davon sind uns nicht bewusst. Viele Gedanken reproduzieren wir immer und immer wieder und hypnotisieren uns sozusagen ständig selbst. Die meisten unserer Gedanken sind sehr negativ, einseitig, kritisch uns selbst und anderen gegenüber und damit nicht wirklich hilfreich.

Die Wissenschaften der Positiven Psychologie und der Achtsamkeit bieten wirksame Werkzeuge, wieder Herr unseres Geistes zu werden. Indem wir diese Gedanken einerseits aufdecken und hinterfragen, andererseits, mittels Dankbarkeitspraxis lernen, unsere Aufmerksamkeit auf gute, positive Gedanken zu fokussieren und damit einen hilfreicheren Blickwinkel einzunehmen.

Dies bedeutet nicht, schwierige und unschöne Tatsachen zu ignorieren. Es bedeutet nicht, die Augen vor der Realität zu verschließen. Es bedeutet aber, dem Negativ-Bias, den wir Menschen von Natur aus einnehmen, einen positiven Blickwinkel an die Seite zu stellen. Um ein ausgeglicheneres Bild von der Welt zu erhalten und gleichzeitig innerlich ausgeglichener und damit positiver zu werden.

Wie übe ich Dankbarkeitspraxis aus?

Ein einfacher Weg, sich in Dankbarkeit zu üben, könnte sein, sich jeden Tag einen Augenblick Zeit zu nehmen und sich zu überlegen, was denn gerade gut läuft im eigenen Leben, was erfreulich ist und glücklich macht. Manche mögen ein Dankbarkeitstagebuch führen, in das sie täglich eintragen, wofür sie dankbar sind. Eine sehr schöne Idee ist die Variante des 6-Minuten Tagebuchs (Ein solches gibt es tätsächlich mit diesem Namen im Handel, vielfältige andere auch. Wir können uns aber ziemlich einfach ein solches Tagebuch selbst in einem Heft kreieren). Täglich werden morgens und abends jeweils drei Minuten für konkrete Fragen aufgewendet, die einen bestimmten Zweck erfüllen. Also ein recht geringer Zeitaufwand.

Die morgentlichen Fragen, die Du Dir stellst könnten lauten:

  • Für welche drei Dinge/Personen/Tatsachen bist Du heute dankbar? (Das kann alles sein. Und natürlich muss es auch nicht jeden Tag etwas komplett Neues sein. Diese Frage fokussiert auf das Positive.)
  • Was würde meinen Tag zu einem guten Tag machen (wähle Dinge, die Du aktiv gestalten kannst. Z.B. „Wenn es mir gelingt, in einen friedlichen Kontakt mit meiner Tochter zu kommen“ – Sich einen „Sechser im Lotto“ vorzustellen macht hier weniger Sinn. Diese Frage betont den Eigenanteil an der positiven Gestaltung des Lebens.)
  • Was ist meine Intention für heute? Welcher Satz würde mich positiv bekräftigen heute? (Eine Intention ist ein positive Vorhaben wie z.B. „Heute sorge ich gut für mich selbst“ oder „Jeden Tag gehe ich einen kleinen Schritt in die gewünschte Richtung“. Diese Frage bringt uns in die Aktivität.)

Fragen am Ende des Tages sind zum Beispiel:

  • Was habe ich heute an Schönem/Tollem/Lehrreichem erlebt? (Wahrnehmen des Positiven)
  • Was habe ich heute Gutes für jemanden getan? (Diese Frage gefällt mir persönlich ganz besonders gut, denn sie hilft uns, indem sie jeden Tag wieder beantwortet wird, uns nicht nur um uns selbst zu drehen. Sie führt dazu, dass wir Verbundenheit mit anderen leben. Und dies wiederum macht uns zufriedener und dankbarer.)
  • Was werde ich morgen besser machen? (Jeder Tag ist ein Neuanfang! Wir haben jeden Tag neu die Chance auf ein glücklicheres Leben! Diese Frage hilft uns auch, gnädiger mit uns selbst umzugehen. Dass ich heute nicht ganz erfüllt habe, heißt nicht, dass ich ein Versager bin, sondern, dass ich Neues dazu lernen kann. Gnädig sein heißt dankbar sein.)

Probier es einfach einmal aus! Der Zeitaufwand ist sehr klein und die Effekte erstaunlich.

Auch betreffend unsere Partnerbeziehungen können wir eine Dankbarkeitspraxis einrichten. Manchmal schlage ich Paaren, die aufgehört haben, sich gegenseitig Wertschätzung zu zeigen, vor, jeder solle jeden Abend drei Dinge aufschreiben, die er an diesem Tag als positiv empfand, betreffend den Partner. Sich diese gegenseitig mitzuteilen, ist gar nicht nötig. Denn wenn ich jeden Tag drei Dinge aufschreibe, die ich gut finde an meinem Partner, wird dies auch schweigend seine Wirkung haben. Es verändert meinen Blickwinkel, es verändert meine Einstellung, es verändert meine Gefühle und es wird am Ende auch mein Verhalten ändern. Zum Positiven. Diese Positivliste hat einen wundervollen zusätzlichen Effekt: Wenn ich auch in guten Zeiten meine Liste weiter führe, habe ich einen Schatz an wertvollen Eigenschaften und Verhaltensweisen meines Partners, festgehalten auf Papier. Und ich kann in schweren Zeiten, wenn der Blick und das Herz nicht offen sind und die Gedanken schwarz und ungnädig, darauf zurückgreifen. Ich kann hier finden, was ich in guten Zeiten empfunden habe und Klarheit gewinnen dadurch, dass ich diesen zweiten Blickwinkel zur Verfügung habe.

Durch Dankbarkeitspraxis bleibt kein Bild vom Leben und den Menschen in Schwarz-Weiß. Dankbarkeitspraxis zeigt uns, wie bunt das Leben ist. Sie kann uns helfen, wieder Freude zu empfinden, dadurch, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf das Positive lenken und dem Negativen gnädig gegenüberstehen. Negatives gehört zum Leben und zu den Menschen, aber es macht nicht das ganze Leben und nicht einen ganzen Menschen aus. Wir haben die Wahl, worauf wir unsere Aufmerksamkeit lenken.

Mindful Sex II

Mindblowing Sex = Mindful Sex? Guter Sex und Achtsamkeit, Teil II

In Teil I dieses Blogposts wurde untersucht, was Guter Sex generell mit Achtsamkeit zu tun hat. Es wurde anhand der Ergebnisse von breit angelegten Studien gezeigt, dass das, was viele Menschen als „Mindblowing Sex“ empfinden, tatsächlich „Mindful Sex“ ist, achtsamer Sex. Eine Begegnung im Hier und Jetzt, mit der vollen Präsenz beider Partner, in einem Raum frei von Urteilen, offen, neugierig und gelassen demgegenüber, was geschehen wird. In diesem Teil möchte ich ein paar Beispiele geben, wie die Integration einer achtsamen Geisteshaltung zu neuen Betrachtungsweisen, Interaktionsmöglichkeiten und einer neuen Qualität von intimem Erleben führen kann und gleichzeitig, wie die achtsame Gestaltung von Sexualität mit Tools aus der Achtsamkeitspraxis konkret aussehen kann. Um den Rahmen dieses Textes zu kennen, macht es Sinn, Teil I gelesen zu haben.

Sexualität und Achtsamkeit, wie sieht das praktisch aus?

Wie soll das praktisch aussehen, die Verbindung von Sexualität und Achtsamkeit? Bei der Überlegung, wie man Menschen helfen kann, diese Attribute, die so viele Menschen „gutem Sex“ zuschreiben, zu verwirklichen in ihrer eigenen Sexualität, stellen alle Sex-Praktiken/Übungen/Spielvarianten nur die „Kür“ dar. Wir kommen nicht darum herum, uns zunächst der „Pflicht“ zu stellen. Wir brauchen die Basis-Werkzeuge. Das ist mein Ansatz hier. Da abstrakter Theorie oft die Anschaulichkeit fehlt, möchte ich hier einen bunten Blumenstrauß von konkreten Beispielen aus der Paartherapeutenpraxis darbieten. Zusammengepflückt und am Ende hoffentlich doch ein Bouquet.

Dazu müssen wir bei der Betrachtung noch einen Schritt weiter wegtreten vom Ort des Geschehens. Um einen noch klareren Blick von außen auf die Sache zu haben. „Guter Sex“ hat nicht nur mit Sex-Praktiken erst mal nicht viel zu tun. Er hat zunächst noch nicht einmal etwas mit partnerschaftlicher Sexualität zu tun und, um noch etwas weiter zu gehen, hat er erst einmal gar nichts mit einem Partner zu tun, sondern mit uns selbst und das noch nicht einmal nur im sexuellen Bereich. Damit Sex die ganzen Attribute, die in Teil I aufgeführt werden enthält, brauchen wir meiner Meinung nach zu allererst ein achtsames Mindset. Eine Kombination der Fähigkeit, durch Achtsamkeits-Tools einen achtsamen Zustand herbeizuführen (State) mit einer achtsamen Geisteshaltung (Trait).

Achtsamkeits-Tools

Fokussieren

Gehen wir doch gleich in medias res, zu einem der häufigsten Themen betreffend erfüllter Sexualität: Mangel an Erregung. Wenn zum Beispiel mitten im Liebesspiel die sexuelle Erregung unterbrochen ist (in diesem Fall unwichtig bei welchem Partner), ist das für viele Menschen das „Aus“ für die augenblickliche Begegnung. Die Feststellung „die Erregung ist weg“ wird nicht selten ganz einfach als Fakt akzeptiert, der sexuelle Kontakt entweder sofort abgebrochen oder oberflächlich weitergeführt, während die Gedanken sich weiter mit dem beobachteten Verlust und dessen Bedeutung beschäftigen. Wenn wir uns aber im Klaren sind, dass vor jedem Gefühl und jeder Körperreaktion ein bewusster oder unbewusster Gedanke/Glaubenssatz steht und stand, dass es völlig normal ist, dass Gedanken kommen und gehen und unser Geist sich ständig selbst beschäftigt, bekommt die Feststellung, dass Erregung „flöten“ gegangen ist, eine neue Bedeutung. Sie bedeutet erst einmal nur: da war ein Gedanke. Bewusst oder unbewusst. Ein in Meditation oder Atembeobachtung geschulter Mensch hat da nun ein wunderbares Werkzeug zur Hand. Er fokussiert.

Fokussieren bedeutet Aufmerksamkeit lenken. Fokussieren bedeutet „Ich nehme wahr, dass ich abgelenkt bin – ich lasse jede Bewertung los – ich führe meine Aufmerksamkeit zurück“

Wenn es gelingt, ganz ohne Bewertung zu beobachten „Ah. Die Erregung ist weg“ und die Aufmerksamkeit wieder dem zuzuwenden, womit ich mich gerade beschäftigt habe, dann entspricht das beim Meditieren der Aktion, alle Gedanken wie ein Geräuschteppich in den Hintergrund treten zu lassen und die Aufmerksamkeit wieder auf den Atem zu lenken.

So kann beim Sex die Aufmerksamkeit wieder zurückgeführt werden zu den Empfindungen auf der Haut, zu Geräuschen, zu dem, was gerade jetzt passiert zwischen uns und unserem Partner (ohne Bewertungen wie „Erregung weg heißt ´keine Lust´“ mit vielfältigen folgeschweren Implikationen). So bekommen Erregung und Lust Gelegenheit, wieder aufzusteigen. Sexuelle Erregung ist rekursiv. Sie kann wieder kommen. Geschlechtsunabhängig. Wenn wir das Werkzeug des Fokussierens beherschen, dann kann daraus eine Haltung der Gelassenheit werden, die uns viel offener und unbeschwerter dem Thema Sex gegenüber sein lässt.

Lustlosigkeit oder fehlende Erregung sind kein Versagen. Aber sie haben uns etwas „zu sagen“. Und darauf sollten wir achten. Achtsam mit sich selbst umgehen heißt deshalb auch, in einer neutralen Situation die Gedanken/Glaubenssätze, die uns beim Sex im Wege stehen, genauer zu betrachten. Genauso wie wir sie während des Sex ziehen lassen sollten, macht es Sinn, Bewertungen bei anderer Gelegenheit wieder her zu holen und zu untersuchen.

Beobachten, untersuchen, Fragen stellen

Eines der Ziele von Achtsamkeit ist, zum Beobachter zu werden. Zum Beobachter, der ohne Bewertung nur wahrnimmt, was geschieht.

Unseren Sex zu dem zu machen, was wir uns wünschen, gelingt am einfachsten, wenn wir uns selbst immer wieder beobachten und reflektieren, unsere eigenen Gedanken und Interpretationen untersuchen und uns Fragen stellen.

Habe ich Annahmen, die mich hindern, alles zu bekommen, was ich mir wünsche? Sind da Gedanken, die dem im Wege stehen, wie zum Beispiel

  • Dass unser Sex nicht gut ist, liegt daran, dass mein/e Partner/in nicht weiß/sieht/begreift, was ich brauche.
  • Wenn mein/e Partner/in mir nicht gibt, was ich mir wünsche, dann habe ich keine Chance auf guten Sex/ dann ist sie/er ein „Versager“ betreffend Sex.
  • Wenn ich beim Sex die Lust verliere/die Erektion verliere, dann ist es mit dem Sex „gelaufen“ (wie gerade oben beschrieben).
  • Ich muss Lust auf Sex haben, damit der Sex gut wird.
  • Ich bin eben kein erotischer Mensch/ich habe das mit dem Sex einfach nicht drauf.
  • Um guten Sex zu haben, muss ich erst abnehmen/Muskeln zulegen/Unperfektes verstecken/loswerden.

Fragen stellen bedeutet offen sein. Fragen stellen bedeutet aber auch „in Frage stellen“. Es bedeutet, immer wieder Gedanken, Urteile, Annahmen, Glaubenssätze auf ihren Wahrheitsgehalt („ist das wirklich so“?) oder ihren Nutzen („ist das ein hilfreicher Gedanke“?) zu untersuchen. Es bedeutet, einen Schritt zurückzutreten, sich selbst zu beobachten in der eigenen Gedankenwelt. Wo beurteile ich? – Mich? – Meinen Partner? – Wo verurteile ich? – Mich – Meinen Partner? – Was würde passieren, wenn ich diese Urteile loslassen würde? Welche Möglichkeiten würden sich öffnen, mein Verhalten und meine Reaktionen betreffend? Welche neuen Gefühle werden möglich, wenn ich einen neuen Blickwinkel einnehme?

Was wir denken, liegt erst einmal nicht in unserem Einflussbereich. Welche Gedanken uns anfliegen, können wir nicht steuern. Was wir damit tun sehr wohl. Für viele Menschen ist das erst einmal neu. Oft wird ein Gedanke als Wahrheit anerkannt. Genauso ist es mit Glaubenssätzen. Was uns von klein auf eingeimpft wurde, nehmen wir oft als Tatsache hin, oder bemerken nicht einmal, dass unbewusste Annahmen uns steuern. Hier langsamer zu werden kann einen Riesenunterschied machen.

Achtsamer Umgang mit dem eigenen Körper

Achtsamer Umgang mit uns selbst bedeutet aber auch, mit dem eigenen Körper achtsam umzugehen. Wie reagiert mein Körper auf Berührung, was tut mir gut, was muss ich erst lernen zu genießen, wo setze ich mich selbst unter Druck und wo habe ich Vorurteile? Habe ich Meinungen, die ich nie hinterfrage, weil sie von mir selbst stammen? Oder weil andere sie auch teilen? Die Frage: „Ist das wirklich so?“ ist manchmal sehr provokativ, wenn ich sie als Therapeutin stelle. Fast jedes Mal lohnt es sich aber, sie in den Raum zu geben. Sehr verbreitete Meinungen betreffen z.B. den Orgasmus der Frau. Oft ist die Meinung: beim Geschlechtsverkehr kann ich nicht kommen. Oder: ich kann nur durch Selbstbefriedigung einen Orgasmus haben, weil mein Partner das nicht richtig macht. Oder: ich kann nur in einer ganz bestimmten Stellung kommen.

Ja, das mag alles sein. Aber wir sind auch konditionierte Wesen. Wir lernen. Ständig. Verhalten. Reaktionen. Bedingungen, unter denen wir bestimmte Gefühle und Körperreaktionen haben. Unser Körper ist oft zu so viel mehr in der Lage als wir ihm zutrauen. Auch: umzulernen.

Wenn ich auf eine bestimmte Art und Weise Lust empfinde, kann ich meinem Partner/meiner Partnerin zeigen, was mir am besten gefällt. Wenn dies aber nicht erfolgreich ist, ist die Interpretation „dann kann ich keine Lust/Befriedigung erlangen“ genau das: eine Interpretation. Nicht die einzig mögliche Interpretation und schon gar nicht die Wahrheit. Eine weitere Möglichkeit, die viele Menschen überhaupt nicht in Betracht ziehen, ist, sich die Chance zu geben, unter anderen Bedingungen auch Lust und Befriegigung zu erfahren. Dazu muss ich evtl. bei der Masturbation die Stellung einnehmen, die ich im Zweier-Sex einnehme und mich so aus meiner gewohnten Solo-Sex-Stellung „raustrainieren“. Ein weiteres sehr häufiges Beispiel betrifft das Umlernen von Körperhaltungen und visueller Stimulation, wenn z.B. Pornofilm-Reize zur Voraussetzung für Gelingen geworden sind.

Achtsamkeit bedeutet auch: Offenheit, Neugierde, Kreativität, Anfängergeist. So kann die Welt plötzlich vollkommen anders aussehen.

Achtsamer Umgang mit sich selbst und dem eigenen Körper bedeutet aber auch: Selbstannahme und Akzeptanz von Imperfektion. Eine der schwierigsten Aufgaben überhaupt. Oft ist es so, dass die Partner überhaupt kein Problem mit der Figur, dem Gewicht, dem Aussehen der selbstkritischen Person haben. Sie leiden aber sehr darunter, dass das Selbstbild und der hohe Anspruch der selbstkritischen Person verhindern, dass diese Freude am Sex hat. Wenn das Begehren des Partners nicht als Bestätigung für die eigene Attraktivität angenommen werden kann, dann führt das nach einiger Zeit zu großer Frustration beim Partner. Selbstakzeptanz ist ein weiter Weg, für ganz viele Menschen. Und manchmal ist damit zuviel verlangt. Wichtig finde ich, dass wir bemerken, was sich abspielt. Das ist der achtsame Weg. Ein „ich habe keine Lust beim Sex, weil ich so selbstkritisch bin und wenn ich keine Lust beim Sex habe, habe ich auch keine Lust auf Sex“ ist nunmal eine vollkommen andere Aussage als „ich habe eben nicht den gleichen Sex-Drive wie Du“. Und somit eine andere Ausgangslage. Achtsamkeit ist also nicht nur wichtig beim Erkennen und Formulieren von eigenen Bedürfnissen, sie ist auch immens wichtig um zu erkennen „worum es denn eigentlich geht“, wenn Stolpersteine auf dem Weg zu erfülltem Sex liegen.

Erotische Empathie

Empathie betreffend Sexualität und Erotik ist ein wichtiger Faktor, um nicht in Grabenkämpfen und „Rechthaben-Debatten“ zu enden. Um überhaupt erst in der Lage zu sein, miteinander „ins Schwingen zu kommen“. Erotische Empathie bedeutet, sich auch mal in die Schuhe des anderen zu stellen, sich dessen Blickwinkel zu eigen zu machen und mitfühlend-wohlwollend die Bedürfnisse und Bedeutungsgebungen des Partners als gleichwertig neben den eigenen bestehen zu lassen.

Das bedeutet, wenn wir das Beispiel von oben nochmals betrachten, zu akzeptieren und für „wahr“ und bedeutungsvoll zu erachten, dass mich mein Partner attraktiv und begehrenswert findet, auch wenn ich mich selbst grundsätzlich/in einer bestimmten Situation/in einem bestimmten Zustand nicht attraktiv finde. Wenn mein Partner Kohlsuppe super lecker findet, werde ich auch nicht hingehen und behaupten: nein, das kann nicht sein, Kohlsuppe kann man nicht lecker finden. Ich werde nicht umhin kommen, zu akzeptieren, dass er Kohlsuppe als Delikatesse empfindet und Freude daran hat, sie zu vernaschen. Wenn ich jedoch die Kohlsuppe bin, die sich selbst als „un-lecker“ empfindet und definitiv nicht vernascht werden möchte, wird es schwieriger. Denn ich habe ja auch Bedürfnisse. Und ich sollte tunlichst vermeiden, Situationen zu erleben, die mich negativ prägen für die Zukunft. Also braucht es manchmal doppelte erotische Empathie. Einen Kompromiss sozusagen.Wenn mein Partner findet, ich rieche super lecker nach dem Sport und sein Begehren durch eben diesen Zustand angeregt wird, ich jedoch selbst in einen Schamzustand gerate dadurch, dass ich glaube, nicht sauber zu sein, dann ist ein kleines „Adjustment“ oft die pragmatische Brücke zwischen den beiden Bedürfnissen. Ein „Hej, gib mir 5 Minuten“ und ein sich-in-Ordnung-bringen ermöglicht plötzlich, dass körperliche Annäherung möglich wird. Erotische Empathie, dem anderen und sich selbst gegenüber, ermöglicht den Shift von simpler Aversion zu investigativem Genauerhinschauen und kreativen Lösungen.

Erotische Empathie zu üben, kann so weit führen, dass Partner akzeptieren können, dass es Dinge/Eigenschaften/Praktiken gibt, die der eine gut findet, der andere aber nicht oder sie nicht erfüllen kann oder will. Dass gleichzeitig diese Tatsache aber nicht bedeutet, dass die Partner das alles voneinander brauchen oder einander erfüllen müssen. So muss zum Beispiel der Pornokonsum des einen Partners nicht mehr als Bedrohung/Konkurrenz zu dem gesehen werden, was man selbst zu bieten hat, sondern als eine Vorliebe, die eventuell sogar Bereicherung in das Sexualleben bringen kann – ohne dass man selbst in Gefahr läuft „nicht zu genügen“. Wir sind tatsächlich sehr verletzbar im Bereich Erotik/Sexualität. Erotische Empathie bedeutet achtsam sich an die Welt des Partners heranzutasten, neugierig zu erfahren, welches Sexuelles Profil (wie der Sexualtherapeut Ulrich Clement es nennt) der andere wohl zeigen wird, frei von Bewertung und Urteilen.

Achtsame Geisteshaltung

Eine achtsame Geisteshaltung zu haben bedeutet konkret, so oft achtsame Momente zu leben, so oft achtsam zu reagieren, dass diese Praxis zu einer Charaktereigenschaft von uns wird, eine allumfassender „Zug“. Der Begriff der Intimität ist ein geeigneter Bereich von Sexualität, dies darzustellen.

Intimität

Wenn der Rahmen, in dem die sexuelle Begegnung stattfindet ein Intimer ist, dann ist ein weiterer Faktor vorhanden, erfüllten Sex zu erleben. Intimität beim Sex ist ein wichtiger Rahmen dafür, dass Erregung, Begeisterung, „Thrill“ stattfinden können. Sicherheit und Bindung sind wichtige Pfeiler für uns Menschen, wenn es darum geht, dass wir es wagen, wir selbst zu sein, uns zu zeigen, loszulassen. Intimität bedeutet, ich darf mich verletzlich zeigen, mich öffnen und kann gleichzeitig darauf vertrauen, dass dies weder im gegenwärtigen Moment noch zu einem späteren Zeitpunkt dazu verwendet wird, mich zu verletzen oder in einer anderen Art und Weise misbraucht wird. Doch Intimität beschränkt sich nicht auf Sexualität, im Gegenteil, Intimität beim Sex, wird erst wirklich möglich, wenn wir generell Intimität möglich machen in unserer Beziehung. Hier gilt:

Die Sex-Arbeit fängt nicht erst an der Tür zum Schlafzimmer an, sondern im Wohnzimmer

Ich benutze diese Schlafzimmer-Wohnzimmer-Metapher nicht, weil ich annehme, dass Sex im Schlafzimmer stattfindet, sondern weil sie immer wieder hilfreich ist, zu zeigen, dass Sexualität (das Schlafzimmer-Geschehen) in vielen Facetten eine Fortsetzung/Folge der anderen Beziehungsinteraktionen (des Wohnzimmer-Geschehens) ist.

Wie wir miteinander umgehen im Alltag, in nicht-sexuellen Situationen, bildet die Basis für sexuelle Begegnungen. Da gehört der freundliche Ton genauso dazu, wie die Akzeptanz der Andersartigkeit unseres Partners. Intimität ensteht durch sich in den Anderen hineinversetzen können, auch mal seine Perspektive einnehmen können, seine Handlungen wohlwollend interpretieren können. Intimität entsteht durch eine zugewandte, großzügige, dankbare Haltung dem Partner gegenüber. Dankbarkeitspraxis wie zum Beispiel das führen eines Dankbarkeitstagebuches oder die Übung von Verbundenheit und Großzügigkeit durch Metta-Meditation sind da wunderbare Achtsamkeitswerkzeuge. Intimität entsteht andererseits auch durch freundlich-zugewandtes Grenzen setzen und Grenzen wahren. Sich selbst sein und bleiben dürfen ist wichtige Voraussetzung, um offen und verbunden zu bleiben. (Eigenständigkeit ist genauso wichtig wie Verbundenheit, siehe unten bei Thrill).

Lies bitte den obigen Abschnitt ganz langsam nochmals. Es ist viel verlangt.

Die Tatsache, dass Beziehungen von selbst schlechter werden und in guten, als befriedigend empfundenen Beziehungen einer einzelnen negativen Interaktion fünf (!) positive Interaktionen gegenüberstehen (Studien des Gottman Institutes) hält uns vor Augen: Gute Beziehungen sind Arbeit. Arbeit, die wir am besten auf alle Bereiche unseres Zusammenseins verteilen. Da gehört Initiative dazu und auch eine gehörige Portion Einfallsreichtum – also eine wunderbare Übungsfläche für den sexuellen Raum.

Umgekehrt lässt sich der sexuelle Raum sehr gut auf die anderen Räume ausweiten:

Simmering, der ganze Tag ist ein Vorspiel

„Simmering“ (manchmal auch „slow burn“) ist ein sexualtherapeutischer Begriff, den ich besonders mag. Simmering bedeutet so viel wie „köcheln“. Im sexualtherapeutischen Gebrauch bedeutet es, Erotik in den Tag zu integrieren, das „sexuelle Zusammensein“ zeitlich und örtlich auszuweiten auf den ganzen Alltag. Begehren „warm zu halten“. Es bedeutet, Berührungen wertzuschätzen, Körperlichkeit zu kultivieren, Erotik Raum zu geben auch in eigentlich nicht erotischen Momenten. Es kann bedeuten, einander „heiß“ zu küssen, obwohl völlig klar ist, dass darauf nichts weiter folgen wird, weil beide Partner auf dem Sprung in die Arbeit sind. Es kann bedeuten, einander während des Tages nicht nur Einkaufslisten zu texten sondern auch einmal eine kleine Aufmerksamkeit (von liebevoll über anzüglich bis offen sexuell konnotiert). Es kann bedeuten, anstelle von genervt zu reagieren – weil es nun wirklich nicht passend ist und definitiv keine Zeit dafür – eine anzügliche Hand auf dem Hintern oder eine Umarmung beim Kochen als Kompliment aufzufassen und mit einem „Schön, dass Dir mein Hintern immer noch gefällt!“ zu kommentieren, statt mit einem „Lass das!“ oder einem „Du denkst immer nur das Eine!“. Es bedeutet, einen Annäherungsversuch im Beisein von Kindern nicht flapsig oder genervt abzuwimmeln, sondern, im Bewusstsein, dass der Partner in deren Gegenwart die nötige Grenze wahren wird, kurz zu erwidern und mit einem Lächeln zu zeigen, dass man dankbar ist für die Zugewandtheit und zu einem anderen Zeitpunkt dem Begehren des Partners sehr wohl Raum geben würde.

Wenn alle Lebensräume und Tageszeiten Gelegenheit sind, Erotik zu üben und Begehren zu entwickeln, dann ist die Schwelle, in den intimen sexuellen Modus zu kommen, wenn dann dafür wirklich Raum gegeben ist, viel niedriger, als wenn die alltäglichen Interaktionen nur aus funktionalen Transaktionen bestehen und wir die Brücke zum „erotischen Paar“ ständig neu bauen müssen.

Simmering ist Erotik im Alltag. Und Erotik ist ein wichtiger Bestandteil von gutem Sex. Erotik erfordert eine achtsame Geisteshaltung. Denn Erotik in Langzeitbeziehungen bleibt nicht von selbst bestehen. Das Bewusstwerden, dass wenn Erotik in der Beziehung nicht aktiv gepflegt wird, es auf Dauer keine Erotik geben wird, und die darauffolgende aktive Entscheidung, Erotik in der eigenen Beziehung zu kultivieren (d.h. zu sähen, zu nähren, um sie dann zu ernten) und Begehren zu pflegen, erfordert ganz viel Achtsamkeit.
Einerseits im Tun, in der präsenten Zugewandtheit, dem Abenteuergeist, der Gelassenheit gegenüber Ergebnissen, andererseits und ganz besonders in dieser Form einer dankbaren, bewussten, entschlossenen Geisteshaltung.

Eigenverantwortung

Achtsamkeit in Bezug auf Sex bedeutet auch Eigenverantwortung zu übernehmen. Gerade, wenn es darum geht, „guten“ Sex zu haben.

Keine Lust auf Sex zu haben, heißt manchmal ganz simpel: Was wir da tun, macht mir einfach keine Lust darauf, es zu haben. Unser Sex ist nicht gut. Was Du tust, turnt mich einfach nicht an. Achtsam zu sein, bedeutet an diesem Punkt, Eigenverantwortung zu übernehmen. Von der Interpretation „Du turnst mich nicht an“ oder „Es turnt mich nicht an“ zu „Ich turne mich nicht an“. Das klingt erst mal etwas provokant. Wenn wir aber zu hundert Prozent selbst die Verantwortung übernehmen für unsere Lust, ist es unsere eigene Aufgabe, herauszufinden, was uns anturnt und dafür zu sorgen, dass wir angeturnt werden. Besser: dass wir uns anturnen.

Stelle Dir deshalb immer mal wieder selbst die Frage: Was turnt Dich an? Ist es Distanz? Kreiere Distanz! Ist es Entspannung? Schaffe Entstpannung! Ist es Neues? Sorge für Neues! Ist es Ambiente? Oder Styling? Ein gutes Körpergefühl? Oder Frieden? Oder gute Kommunikation? Nimm es in Angriff! „Mein Partner muss den ersten Schritt tun“ oder gar „Du bist verantwortlich, dass ich mich gut fühle“ hilft da nicht. Es ist unsere Lust, unser Begehren. Unser Empfinden, unsere Gedanken, unsere Gefühle. Manchmal merken wir dann, dass wir unser eigenes sexuelles Profil gar nicht so gut kennen und es Sinn macht, erst einmal über uns selbst nachzudenken. Manchmal merken wir, dass wir unsere „dunklen Seiten“ zu wenig ausleben oder uns nicht trauen, uns zu offenbaren, in unseren Phantasien und Besonderheiten. Und dass wir den Mut aufbringen sollten oder den intimen Raum erst erschaffen, um ein Ansprechen möglich zu machen.

Manchmal merken wir dann, dass wir größere andere Aufgaben noch haben. An unserem Selbstwertgefühl zu arbeiten. Oder uns ein erfülltes Leben zu schaffen.

Tu einen ersten Schritt. Was turnt Dich an?

Es braucht Neugierde, Offenheit und den Willen, sich einzulassen. Sich einzulassen auf das eigene Begehren, sich mit der eigenen Lust zu verbinden. Es braucht Übernahme von Eigenverantwortung: für die eigenen Gedanken, die eigenen Interpretationen, die eigene Aufmerksamkeit, die eigene Lust, das eigene Begehren. Eigenverantwortung, dem inneren Kritiker die Stirn zu bieten, dem äußeren Richter die Zügel stramm zu halten, den eigenen, abenteuerlustigen Seiten die Erlaubnis zu geben, auf Forschungsreise zu gehen, zu schauen, wohin die Reise führt. Es braucht überhaupt viel „ich erlaube mir“ – viel Wertschätzung sich selbst gegenüber. Wertschätzung dem eigenen Körper gegenüber, seiner Imperfektion, seinen Eigenheiten, seinen Empfindungen. Wertschätzung meiner eigenen Gesellschaft gegenüber, mich selbst als „gut genug“ anzuerkennen, mit dem was ich bin und zu bieten habe. Es braucht Gelassenheit, einen gewissen Gleichmut, der zwischen „alles ist großartig“ und „alles ist schlecht“ liegt. Und eine gewisse Akzeptanz, dass das Ganze eventuell erst mal nicht so einfach ist. Wenn wir es aber schaffen, eine innere Haltung weg von Leistung und Performance hin zu Freude und Spiel zu entwickeln; wenn wir den Fokus weg von Zielerreichung hin zum Hier und Jetzt bringen können. Wenn wir wirklich wertschätzen können, was ist. Dann entsteht da ein ganz großer Raum, wo Lust, Begehren, Intimität, Verbundenheit, Freude und Spiel platz finden können. Und somit „guter Sex“.

Und ja, in diesem Sinne ist das Meditationskissen ein Sex-Toy. Enjoy!

Mindblowing Sex = Mindful Sex? – Guter Sex und Achtsamkeit, Teil I

Was hat Guter Sex mit Achtsamkeit zu tun?

Zwei Dinge vorausgeschickt: Ich werde hier nicht qualitativ definieren, was „guter“ Sex ist oder zu sein hat. Ein Wesensbestandteil von Menschen ist, dass sie sehr verschieden sind. So sind auch ihre sexuellen Bedürfnisse und Vorlieben sehr unterschiedlich. Schon allein daraus ergibt sich, dass es schlicht keinen allgemeingültigen „Masterplan“ zur Erlangung von befriedigender Sexualität gibt.
Gleichzeitig bin ich selbst sehr dem therapeutischen Anspruch „Respekt vor der Wirklichkeit des anderen“ verbunden. So soll hier „guter Sex“ also für viele verschiedene Vorstellungen stehen. Und lediglich die Bedingungen betrachtet werden, die dahin führen können, dass Menschen Sex als erfüllend empfinden.
Das zweite: ich beziehe mich hier auf Langzeitbeziehungen. Denn hauptsächlich in diesen stellt sich die Herausforderung, guten Sex zu haben, wenn der Verliebtheits-Hormon-Cocktail nicht mehr automatisch dafür sorgt, dass Begehren entsteht. Wenn Neues nicht mehr neu und Unbekanntes schon längst bekannt geworden ist. Wenn nicht mehr nur Abenteuer, sondern auch Bindung, wenn nicht mehr nur kurzfristig Hungerstillen, sondern längerfristig Sattwerden gefragt sind.
Die Frage „Warum habe ich keine Lust auf Sex?“ bzw. „Warum befriedigt mich die Sache mit dem Sex nicht wirklich?“ findet sich mit hartnäckiger Regelmäßigkeit in der paartherapeutischen Praxis. Die Antworten, die die Klienten für sich erarbeiten, finden sich mit erstaunlicher Häufigkeit immer wieder im Bereich Achtsamkeit. Oder besser: Dem Fehlen von Attributen von Achtsamkeit. Gleichzeitig bewegen sich auch die Aussagen sexuell zufriedener Klienten, wenn sie beschreiben, was Sex für sie so befriedigend macht, in diesem Bereich. Genau dort finden sich also auch die Lösungen für die Probleme und Unzufriedenheiten. Deshalb lohnt sich meiner Meinung nach ein Blick auf die Zusammenhänge zwischen gutem Sex und Achtsamkeit.

Was findet statt?

Die obersten Kriterien der allgemeinen Achtsamkeitspraxis sind: Im „Hier und Jetzt“ zu sein, Dinge einfach zu beobachten, zu akzeptieren, wie sie sind, auf Beurteilungen zu verzichten und stets einen neugierigen, unvoreingenommenen Anfängergeist zu kultivieren. (Siehe auch den Eintrag zu Achtsamkeitspraxis hier)
Bei vielen Menschen findet während der sexuellen Begegnung aber tatsächlich Folgendes statt:
Zunächst einmal ist da ein Kopf, voll von Dingen, die uns den Tag über beschäftigen – Da tauchen plötzlich ToDo´s auf, die noch zu erledigen wären, stressige Gedanken betreffend Arbeit, Familie und andere Verpflichtungen oder Sorgen. Oft stehen da auch plötzlich, ganz spontan, unliebsame Fragen im Raum wie: könnten die Kinder etwa reinplatzen oder der Nachbar etwas hören? Oder Bewertungen und Abwertungen (meistens sich selbst betreffend): bin ich nicht einfach zu pumelig, um attraktiv zu sein? Mein/e Partner/in findet das, was ich hier tue bestimmt nicht wirklich sexy…
Oft ist da ein „Ziel“ im Visier. Ungeschrieben und irgendwie doch übereinstimmend: Das Anliegen, den anderen maximal zu erregen und nach Möglichkeit, mal auf direktem, mal auf indirektem Weg zum Orgasmus zu bringen. Und gleichzeitig sollte ich selber noch Begehren spüren und definitiv nicht müde sein… Und eigentlich wollte ich auch selber noch etwas davon haben!
Es herrscht also Stress…
Dies festzustellen ist für manche Paare bereits erleichternd. Zu realisieren, dass sie SO keine guten Chancen haben, Begehren zu entwickeln, geschweige denn Befriedigung zu erfahren. Ein weitere Hilfe kann sein, zu erkennen, dass Sexualität widerstrebende Bedürfnisse vereinigt und deshalb in sich selbst schon einen Konflikt trägt:

Nähebedürfnisse

Einerseits sind da Bedürfnisse nach Geborgenheit, Bindung, Sicherheit, nach Kuscheln, sich wohlfühlen, sich fallenlassen können, nach halten und gehalten werden.
Manchem kommt da „Blümchensex“ in den Sinn, manchen ist Verschmelzung/Eins-werden ein Anliegen. Andere würden es als eine „das Körperliche überschreitende spirituelle Vereinigung“ bezeichnen.

Distanzbedürfnisse

Andererseits sind da ganz andere Bedürfnisse beim Sex auch Antrieb: Lust auf Neues, Unbekanntes, Abenteuer, Risiko, Freiheit. Selbstbestimmung und Individualität. Drang nach Kreativität und Ausdruck.


Nicht nur sind nicht alle Menschen gleich. Auch sind wir alle nicht zu jedem Zeitpunkt die Gleichen. Wir haben unsere guten Zeiten, schlechten Zeiten, unsere Tagesform, unsere Lebensphasen und unseren persönlichen Wandel. Dies betrifft auch unsere ganz persönliche Mischung von Nähe- und Distanzbedürfnissen.

Sehen und gesehen werden

Ein Aspekt, der sehr vielen Menschen wichtig ist, befindet sich außerhalb der Nähe- und Distanzbedürfnisse – er verbindet sie jedoch, ja umschließt sie vielmehr: Wir alle wollen erkannt werden als die, die wir sind und akzeptiert, wie wir sind. Wir wünschen uns sehnlichst, dass da jemand ist, der uns mit allem, was uns ausmacht annimmt, will und begehrt.
Dieses Sehen und Gesehenwerden verlangt aber genau das, was Achtsamkeit ausmacht: Im Hier und Jetzt ganz präsent zu sein, ohne Absicht und ohne Beurteilen oder Verurteilen. Neugierig. Offen. Hier kann neben Begehren ganz vieles noch entstehen: Sinnlichkeit im wahrsten Sinne des Wortes, nämlich mit allen Sinnen wahrnehmen, was geschieht. Empfindungen wahrnehmen und zulassen. Intimität, Vertrauen, Nähe. Aber eben auch Erregung und der ganze Erregungskreislauf von Begehrt werden, erregt werden, erregt sein, begehren, erregen… Mit dem Sich-zeigen-dürfen werden auch Wagnisse möglich und Spiel und Freude.
Da ich in meiner Praxis in den Schwerpunkten Sexualtherapie und Achtsamkeitspraxis arbeite, hatte ich erst den Verdacht, dass mir die Zusammenhänge nur so stark auffallen, WEIL ich mich sehr intensiv mit diesen Bereichen beschäftige.

Doch auch sexualtherapeutische, breit angelegte Studien* belegen, dass ein Großteil der Menschen vor allem folgende Aspekte betreffend Sex als „großartig“ bezeichnet:

  1. Absolut präsent im gegenwärtigen Moment und im eigenen Körper

    Vom gegenwärtigen Augenblick vollkommen absorbiert zu werden, aber hellwach und aufmerksam zu sein, total lebendig und fokussiert, aller Sinne bewusst, bedeutet im „Flow“ zu sein. (Und gleichzeitig bedeutet dies die Abwesenheit von ständigen Gedanken im Kopf, von inneren Stimmen und Kommentaren.)

  2. In tiefer Übereinstimmung und synchronisiert mit dem Partner

    Ein tiefgreifende Wahrnehmung von körperlicher und geistiger Übereinstimmung. Ein winziger Moment manchmal, in dem nicht klar ist, wo höre ich auf und wo fängt der Partner an. Das Gefühl „Eins“ zu sein.

  3. Intimität auf verschiedenen Ebenen spüren

    Tiefe Intimität zu verspüren, die Beziehung, die Erotik und die Sexualität betreffend. Dies setzt tiefes Vertrauen in den Partner voraus und tiefen Respekt füreinender. Beides beginnt weit vor der sexuellen Begegnung. Sich geliebt und gewollt fühlen, akzeptiert und verehrt, gegenseitig füreinander zu sorgen; dies alles führt zum Gefühl von Sicherheit.

  4. Außergewöhnlich gute Kommunikation, verbunden mit tiefer Empathie füreinander

    Die Fähigkeit und die Möglichkeit, frei zu kommunizieren, sei es durch Worte oder durch Berührungen. (i.e. ohne zu beurteilen oder beurteilt zu werden). Berührungen wurden in den Umfragen als sehr hoch geschätzt bewertet. Berührungen als direkte, spezielle, erotische Form von Kommunikation. Auch Empathie wird als ein sehr hohes Gut bewertet. Damit gemeint ist wertfreies Hinhören, Reagieren, Beobachten aber auch das Erkennen von Ungesagtem durch Aufmerksamkeit auf die kleinen Dinge. Und das „Sich-in den-anderen-hineinfühlen-können“: Das Lesen-Können von Reaktionen des Partners durch den eigenen Körper, das Miteinander-in-Verbindung-Treten der zwei Körper durch Berührung.

  5. Authentisch, echt, ungehemmt und transparent sein

    Ganz allgemein ist das Anliegen ein „sich keine Gedanken darüber machen müssen, irgendwie nicht ok zu sein“. Sei es betreffend Aussehen, betreffend Verhalten oder betreffend eigener Anliegen beim Sex. Die Möglichkeit zu haben, auch sich selbst gegenüber ehrlich zu sein und dem anderen alles offen und ehrlich zu zeigen. Sich selbst „vergessen“ zu können (und die eigenen Mäkel und Mängel) und sich dem Verlangen und den eigenen Wünschen vollständig hingeben zu können und auch dem Partner gegenüber emotional absolut transparent und „nackt“ dastehen zu können.

  6. Abenteuerlich experimentieren und Risiken eingehen können beim Spielen und Spaß haben

    Für viele Menschen ist der spielerische, abenteuerliche Aspekt wichtig bei der Empfindung von „gutem“ Sex. Risiken eingehen zu können, bezüglich neuer Ideen und auch mal experimentieren zu können. Seine eigenen Grenzen und die des Partners ständig ein wenig mehr zu erweitern und offen zu sein für Unbekanntes. Dazu gehört eine Portion Humor, damit auch mal etwas misslingen darf, sich nicht gut anfühlen darf, auch mal ästhetisch nicht einwandfrei wirken darf.

  7. Verletzlich sein dürfen/können und sich ganz dem eigenen Begehren hingeben können

    Sich ganz in die Hände des Partners geben zu können, bedeutet verletzlich sein zu können. Es bedeutet Vertrauen zu haben in das Bemühen des Partners, ganz in meinem Sinne und zu meinem Besten zu handeln. Wenn dies möglich ist, dann wird es möglich, das eigene Begehren zu zeigen, dann ist Loslassen möglich, dann ist Hingabe nicht gefährlich sondern höchst erotisch.

  8. Glückseligkeit, Frieden, Transzendenz

    Für manche hat guter Sex etwas Spirituelles, etwas Transzendentes, etwas, das sich ähnlich beschreibt wie ein Meditations-„High“. Manche beschreiben diesen seligen Zustand auch als „frei von Zeit und Raum“. Viele Menschen erfahren guten Sex als „wachstumsfördernd“ für das eigene, persönliche Wachstum, als transformierend oder heilend.

Bemerkenswert:

Es gibt zwei Themen, die in den Studien mit-untersucht werden und die deshalb sehr interessant sind, weil diese Themen in der Öffentlichkeit als Nummer-Eins-Aufhänger für guten Sex gebraucht werden: Die Wichtigkeit der Intensität von körperlichen Empfindungen und Erlebnissen und das Thema „Geilheit“ und Orgasmus. Beide Themen werden in den Antworten der Umfragen als Unterthemen erwähnt. Beide Themen waren aber schlicht NICHT der Fokus der Teilnehmer und wurden NICHT als zentrale Bestandteile von gutem Sex definiert. Es wurde vielmehr hervorgehoben, dass es eher wichtig sei für „guten Sex“, manche Dinge wieder zu verlernen und loszulassen, die uns gesellschaftliche Konventionen betreffend Sexualverhalten auferlegt haben. Das finde ich sehr bemerkenswert.

Gefragt sind hingegen Offenheit, Authentizität, das Bemühen, emotionale Verbindung zu erreichen und Mut. Ganz schön viel … Und gleichzeitig schließt sich hier der Kreis und wir sind wieder beim Thema Achtsamkeit: Wenn wir versuchen, uns den Situationen ohne zu bewerten/zu beurteilen/zu verurteilen zu nähern – auch ohne uns selbst solchen Urteilen zu unterziehen! – dann entsteht ganz von selbst ein neuer Raum, ein Platz im Hier und Jetzt, der mit Präsenz und all den oben aufgeführten Attributen ausgefüllt werden kann. Wer diese ungeteilte, wertfreie Aufmerksamkeit erfährt, fühlt sich unweigerlich „gesehen“ und gut aufgehoben. Was gleichzeitig Gelassenheit und Loslassen ermöglicht. Und eine wirklich intime Begegnung.

Ein paar praktische Ideen, wie Achtsamkeitspraxis bezüglich Sex aussehen kann, findest Du in Teil II.

Studien, auf die ich mich bezogen habe:

Murray, S.H., Milhausen, R.R. & Sutherland, O. (2014) A qualitative comparison of young women´s maintained versus decreased sexual desire in longerterm relationships. Women & Therapy, 37, pp 319-41.

*Kleinplatz, P.J., Ménard, A.D., Paquet, M., Paradis, N., Campbell, M., Zuccarino, D. & Mehak,L. (2009). The components of optimal sexuality: A portrait of „great sex“. The Canadian Journal of Human Sexuality. Vol. 18, pp 1-13.

„Wir werden das schon schaukeln!“- Wie Zuversicht Veränderung bewirkt

Viele Menschen, die einen Paartherapeuten aufsuchen, sind sehr wohl in der Lage, eigene Verhaltensweisen zu erkennen, die zu negativen Interaktionen mit dem Partner beitragen. Sie verfügen durchaus über Beziehungserfahrung und eine meist recht hohe Beziehungsintelligenz. Dennoch sehe ich häufig Paare frustriert und ohne Hoffnung auf Veränderung der immer wiederkehrenden Interaktionsmuster – zu viel haben sie schon versucht, zu oft sind sie schon in die alten Muster zurückgefallen. Es fehlt die Zuversicht, dass Veränderung möglich ist.

Denn sie wissen, was sie tun…

Beide Partner wissen eigentlich, dass sie mit dem eigenen Verhalten sehr wohl auch einen eigenen Beitrag zu den verhassten Situationen beisteuern. Oder sie sehen das spätestens, nachdem sie sich mit der partnerschaftlichen Misere etwas intensiver befasst haben. Sie sind sich bewusst, dass die gewählten eigenen Strategien nicht zielführend sind, weil die eigenen Aktionen genau die Reaktionen beim Partner hervorrufen, die sie selbst aus der Welt geschafft haben wollen.

Warum wird, obwohl beide Partner wissen, was zu tun wäre, der nötige eigenen Schritt in Richtung Veränderung nicht gegangen?

Einerseits hängt dies damit zusammen, dass wir viele unserer Strategien bereits in der Kindheit, im Kontakt zu unseren ersten Bezugspersonen, erlernt haben, sie seither fleißig praktizieren und schon weitgehend automatisiert haben. Sie fühlen sich vertraut und richtig an, auch wenn sie uns und dem, was wir erreichen wollen, in der gegenwärtigen Situation nicht mehr dienen.

Manchmal hilft die Erkenntnis, dass „mehr desselben“ eben nicht wirklich ein neuer Versuch ist, sondern eine Wiederholung darstellt.

Miteinander über die gemeinsamen Muster reden, freundliches, zugewandtes Grenzen setzen, vertreten der eigenen Position, bitten um Unterstützung beim Wechsel in ein besseres Zusammensein, üben des „guten Tons“, also insgesamt eine gewisse Beständigkeit und Hartnäckigkeit auf beiden Seiten, sind hilfreich und oft auch nötig.

Leider ist es aber häufig so, dass genau an dieser Stelle die Partner entdecken müssen, dass ein weiterer Bestandteil fehlt, der dringend notwendig ist, damit das gemeinsame Projekt Erfolg hat. Zuversicht. Zuversicht, dass Veränderung gelingen kann und der Glaube daran, der Partner könne oder wolle sich wirklich verändern.

Zuversicht

Was bedeutet in diesem Kontext Zuversicht? Zuversicht bedeutet die positive Einschätzung des Anderen. Zuversicht bedeutet, zu vertrauen, dass der Partner willig ist und sein Bestes geben wird, damit Veränderung möglich wird. Zuversicht bedeutet, dem Partner und sich selbst zuzumuten und zu vertrauen, „dass wir das schon schaukeln werden“.

Zuversicht als Haltung

Als Erstes ist Zuversicht also eine Haltung. Wie aber kommen wir dahin? Die Aussage „Es bewegt sich nichts“ sehe ich als Paartherapeutin erst einmal als Zeichen, dass da jemand „auf der Bremse steht“, oder, um beim Schaukeln zu bleiben: „Den Fuß nicht vom Boden kriegt“. Die Metapher vom Schaukeln ist sehr geeignet, um diesen paartherapeutischen Prozess zu verdeutlichen: wenn ein Paar in Therapie kommt, will es wieder Schaukeln, es will in Bewegung kommen, neue Ausblicke haben, wieder Freude und Spaß erfahren. Wenn ich nun meinem Partner nicht zutraue, dass er fähig ist, sein Verhalten zu ändern, seine Ansichten zu hinterfragen, als Person zu wachsen, dann bleibe ich sozusagen, nachdem ich die Schaukel in Spannung gesetzt habe, um Schwung zu holen, einfach mit einem Fuß am Boden stehen. Dieses Bild verdeutlicht ganz klar: da hat jemand etwas vor, tut es aber nicht. Oft sind es beide. (Wobei jeder denkt, er würde sehr wohl etwas verändern, der andere aber nicht.)

Was braucht es? „Den Fuß vom Boden nehmen“ bedeutet erst mal loslassen. Um loslassen zu können, muss ich achtsam sein, langsamer werden, innehalten, eine Lücke zwischen Reiz und Reaktion schlagen. Um genügend Distanz zu gewinnen, damit ich sozusagen von außen einen Blick auf die Situation werfen kann. Eine Beobachterposition einnehmen kann. Um mich dann zu entscheiden: Was braucht die Situation jetzt von mir? Wie kann ich zur Veränderung beitragen? Weg vom „ja, aber der Andere…“ und selbst den ersten Schritt in Richtung Veränderung tun. Schwung holen und beherzt den Fuß vom Boden nehmen. Es braucht neue, andersartige Reaktionen und Impulse und dazu auch neue Blickwinkel. Systemisch ausgedrückt: Egal wo, wenn sich an einer Stelle des Systems etwas bewegt, kommt das System als solches in Bewegung.

Wenn ich meinem Partner nicht zutraue, dass er gleichzeitig seinen Teil dazu tun wird, ist das ein schwieriger Schritt. Ich gehe das Risiko ein, (wieder) verletzt oder enttäuscht zu werden. Nur: Ohne dieses „Fuß vom Boden nehmen“ wird es kein Schaukeln geben. Zuversicht bedeutet also auch Mut. Mut beinhaltet einerseits Angstbewältigung, aber auch eine klare Entscheidung. Diese Entscheidung zu treffen, fällt manchmal etwas leichter, wenn der zweite Aspekt von Zuversicht klarer wird:

Zuversicht als Verhalten

Zuversicht bedeutet auch, den Partner so zu behandeln, als sei er schon zu der Version seines Selbst geworden, die ich mir wünsche.

Stellen wir uns zur Veranschaulichung uns selbst im Umgang mit einem Kind vor: Wenn wir bei einem Kind ein Verhalten bewirken möchten, wie erreichen wir das Gewünschte eher, wenn wir annehmen, es wird das schaffen, oder wenn wir denken und uns so verhalten, als ob es das erwünschte Verhalten ohnehin nicht schaffen wird?

Natürlich erwartet keiner von uns, dass wir unseren Partner wie ein Kind behandeln. Dennoch: Wenn wir verhindern wollen, dass wir selbsterfüllende Prophezeihungen schaffen, sollten wir im Auge behalten, dass unser Denken – über Worte und Taten – Folgen hat.

Ein beherztes „Ich versuch`s! Ich trau`s Dir zu!“ zu vermitteln, anstelle eines „Du zuerst!“, bedeutet, einen mächtigen positiven Impuls zu setzen.

Vielleicht braucht es mehrere Anläufe. Vielleicht braucht es eine Weile Einschaukeln. Manchmal vielleicht eine Prise Humor, ein „Ups, da sind wir wieder!“, ein Augenzwinkern.

Sich für die Haltung und das Handeln in Zuversicht zu entscheiden, braucht tatsächlich Mut, Optimismus, Abenteuerlust, Neugierde. Doch in ganz vielen Fällen lohnes sich, Anlauf zu holen, den Fuß vom Boden zu heben, loszulassen. Für ein beherztes „Wir werden das schon schaukeln!“.

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Nähe und Distanz

Die Frage, wieviel Nähe oder Distanz in einer Beziehung gelebt werden soll, führt bei vielen Paaren zu Reibungen. Nicht-darüber-reden oder Diskussionen, die nicht an der Basis des Problems geführt werden, haben ernsthafte Konflikte zur Folge. Da wird Autonomie plötzlich zur Freiheit für den einen und zur Gefahr für den anderen. Bindung bedeutet Sicherheit für den einen und Gefängnis für den anderen. Und wie immer, wenn nicht das besprochen wird, was eigentlich zu besprechen ansteht, findet sich keine Lösung, die zur beständigen Zufriedenheit beider Partner führt.

Deshalb lohnt es sich, sich damit zu beschäftigen, was an der Basis des Problems denn geschieht oder geschehen ist: Worum geht es wirklich?

An der Oberfläche geht es meist um Zeit und Raum. Erst einmal: Wieviel Zeit verbringen wir zusammen, wieviel Zeit kann und soll jeder für sich alleine verbringen, beziehungsweise mit anderen, ohne den Partner. Dann: wann soll denn diese gemeinsame bzw. getrennte Zeit stattfinden. Und geschieht dies geregelt-abgesprochen, spontan-flexibel, gleichzeitig, abwechselnd – Was sind die Regeln für Vereinbarungen mit anderen oder für Me-time ganz allgemein? Und zuletzt, jedoch von der Bedeutung her wohl am allerwichtigsten: wozu sollen wir Einzelzeit verwenden? Was soll, darf, kann in dieser Zeit alles geschehen und was ist die Bedeutung dessen – für den einen, für den anderen?

Wenn es aber Spannungen gibt, dann geht es eben nicht nur um Zeit oder Raum, um Organisatorisches, das abzusprechen ist. Unterliegend, an der Basis, fühlt sich einer der Partner oder auch beide durch die Art des anderen, mit Nähe und Distanz umzugehen eingeschränkt oder bedroht. Da kommt es ganz schnell zu Schuldzuweisungen und Unterstellungen, dass man dem anderen ja gar nicht (mehr) wichtig sei, dass alles andere Priorität habe, dass die eigene Person nie genüge und vieles mehr. Auf der anderen Seite wird aufgeführt, dass der Partner alle Zeit, alle Aufmerksamkeit, alle Zuwendung, die zu geben ist, für sich beanspruchen will, dass es nichts und niemanden anderen mehr geben dürfte, wenn es nach seinen Bedürfnissen ginge, dass alles eh nie genügen würde und der Partner auf jeden Fall alles bestimmen und kontrollieren wolle und müsse, damit er sich wohl fühle – am Ende würde keine eigenständige Person mehr existieren.

Auffällig ist, dass beide vom jeweils anderen als ganz schön mächtig empfunden werden. Und man selbst als entsprechend hilflos, ausgeliefert, in der Falle – oder zumindest sehr in Frage gestellt und angegriffen.

Ein Klient hat einmal sehr treffende Worte für dieses Zusammenspiel gefunden:

Ich habe den Eindruck, Dir nie genügen zu können. Was ich mache ist für Dich immer wieder nur der „Beweis“, dass ich es ja nicht so ernst meinen kann mit uns. Wenn ich Zeit mit anderen verbringen will, wenn ich meinem Hobby nachgehen will, wenn ich arbeite, habe ich immer den Eindruck, Du setzt mich unter Druck mit der Erwartung, diesen Quatsch sein zu lassen und mich Dir zu 100% zu verschreiben. Ich weiß, dass Du das nicht willst, aber Deine fortwährende Besorgnis, mir nicht genügen zu können, schürt paradoxerweise meine Befürchtung, Dir nie genügen zu können. Deswegen kommen Deine Bitten auch für mich so „absolut“ rüber, obwohl ich weiß, dass Du sie nicht immer so meinst. Du bittest mich, dies zu verschieben, Du bittest mich, dort mehr dabei sein zu können, Du bittest mich, Dich an verschiedenen Stellen wichtiger zu nehmen – es ist immer das Gleiche: ich fühle mich unter Druck gesetzt und so behandelt, als ob Du mir nicht wirklich eine Wahl lässt, außer Dir nachzugeben. Und das will ich nicht, ich kann das nicht. Ich möchte ein anderer auch noch  sein, ein eigenes Leben auch noch haben…Wie unsere Beziehungsbedürfnisse bezüglich Autonomie und Bindung aussehen, wurde zu einem gewichtigen Teil durch unsere Geschichte und unsere Herkunftsfamilie geprägt und bestimmen bis zum heutigen Tag, wie wir mit Nähe und Distanz umgehen. Diese ersten engen Bindungsbeziehungen wirken wie eine Blaupause für unsere Interpretationen von Situationen in allen späteren engen Beziehungen. Ob ich gemeinsames Verbringen und Gestalten von Zeit und Raum als verbindend, beständig, sicher, beruhigend und wohltuend empfinde oder als kontrollierend, einengend, grenzüberschreitend, „verschlingend“ hängt natürlich vom Ausgestaltung und der Häufigkeit solcher Zweisamkeit ab, aber vor allem auch davon, was wir beim Herzanwachsen und in früheren Beziehungen erlebt haben. Wenn ich als Kind ständig gelenkt, beobachtet, kommentiert, oder gar kritisiert oder abgewertet wurde, dann ist Nähe auch immer belastet durch die Gefahr, dem anderen zu viel Macht über, zu viel Einfluss auf mein Leben zu geben. Hier wird als Folge sehr sorgsam dafür gesorgt, dass stets klar ist, dass jeder eine unabhängige Person ist und bleibt. Spätestens wenn der andere zu viel Kontrolle über den Autonomiebereich haben will, werden die Grenzen bewaffnet. Wenn die Vergangenheit geprägt war von Verlassenheitsgefühlen aus diversen Gründen, bis hin zu Vernachlässigung, dann werde ich es nicht so leicht haben, mit der Abwesenheit des Partners umzugehen. Wenn ich als Kind eine Bezugsperson verloren habe, dann wird es unter Umständen Situationen geben, die andere Menschen als völlig normal, ich jedoch als extrem belastend empfinde. Genauso können vorgelebte Ängste, moralische Standards oder nicht gelebte Nähe in vergangenen Zeiten uns in unseren Interpretationen heute beeinflussen – mal in Richtung Bindung-suchend, mal in Richtung Distanz-wahrend.

Das neue Wissen um diese Zusammenhänge ist meist entlastend. Plötzlich ist nicht mehr der andere „falsch“, plötzlich gibt es andere Verantwortliche für die Reaktionen des anderen, als das eigenen Verhalten. Auch wenn nicht immer ganz klar wird, wie die jeweiligen Interpretationen entstanden sind, so hilft dennoch der Austausch über eben diese Bewertungen und die eigenen Empfindungen.

Wichtig ist also, dass das Paar darüber ins Gespräch kommt. Manchmal sind dies aufreibende, verunsichernde, das „Ganze“ in Frage stellende Diskussionen. Es geht darum, dem anderen die eigene Welt darzulegen. Recht haben zu wollen wird hier nicht helfen. Das Verständnis für die Wirklichkeit des anderen jedoch schon.

Manchmal wird dann klar: unsere Bedürfnisse betreffend Nähe und Distanz passen einfach nicht zusammen. Wenn das Streben nach Autonomie des einen so unakzeptabel, ja gefährlich für den andern ist, dass er ihm immer „die Hölle heiß machen“ wird darüber. Oder ständig in Ängsten und Unzufriedenheit leben muss, die zu glätten nicht gelingt. Wenn die Bedürfnisse des anderen nach Nähe für den einen immer nur „Kontrolle und Ansprüche“ sein werden, denen er sich in keiner Weise unterzuordnen oder anzupassen bereit ist. Dann ist eine Beziehung eventuell einfach zu belastend und eine Trennung eine Befreiung.

Oft wird aber Veränderung möglich. Dabei muss jeder bis zu einem gewissen Maße bereit sein, aus seiner Komfortzone heraus zu treten und dies auch TUN. Um neue Erfahrungen zu machen und damit neue Interpretationen zu gewinnen. Manchmal ist Akzeptanz nötig. Dass der andere sich wohl nicht in einen komplett neuen Menschen verwandeln wird, auch wenn er sich um Veränderung und Kompromisse bemüht. Doch dieses Bemühen auf beiden Seiten kann zu einer neuen, tieferen Verbindung führen, wo im Idealfall erreicht werden kann, dass das Pendeln zwischen den Polen Nähe und Distanz ganz natürlich und ohne Spannungen, vielleicht sogar spielerisch stattfinden kann. Und am Ende alles gleichzeitig stattfinden darf:

In der zweisamen Nähe dennoch Individuum bleiben zu dürfen, eigene Meinungen, Interessen und Bedürfnisse haben zu können. Und in der autonomen Ferne sich stets emotional verbunden zu wissen. Zu wissen, dass Distanz weder Abwenden noch „Streunen“ bedeutet, sondern lediglich, dass der andere eben ein anderer ist und bleiben will. So bietet sich für beide die Möglichkeit, von den beiden entgegengesetzten Polen Nähe und Distanz wegzukommen. Nicht nur das eine zu wollen und zu haben, sondern beides im Wechsel, mal das eine mehr, mal das andere, mal gleichzeitig und sich einig, mal unterschiedlich doch stets „begreifend“.

Die gemeinsame Entscheidung, dies leben und zu pflegen, eröffnet die Möglichkeit einer Beziehung, wo jeder dem andern die Freiheit lässt, sich selbst zu sein, sich zu verändern, zu wachsen. Und gleichzeitig das Gemeinsame unbelastet Nähe und Bindung bedeuten darf.

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Eifersucht

Vertrauen


Vertrauen

Eine Frage, die in meiner Praxis immer und immer wieder gestellt wird, ist die Frage: Wie kann ich vertrauen? Oder auch: Wie kann ich wieder vertrauen? Wie komme ich mit meinem Misstrauen klar? Ich bin auf diesen Aspekt der Angst bereits dort eingegangen, wo ich über Eifersucht gesprochen habe, möchte das Thema Vertrauen hier aber nochmals vertieft betrachten, da Vertrauen eine elementarer Bestandteil von befriedigenden, funktionierenden Beziehungen ist. Gleichgültig, ob es sich um eine neue Beziehung handelt, in der die Basis für Vertrauen noch sehr klein ist, um eine bereits gewachsene Beziehung oder um eine Beziehung, in der Vertrauen missbraucht oder verletzt wurde.

Vertrauen besteht aus zwei Komponenten: die eine lässt sich so formulieren: „Wenn Du Deinen Worten Taten folgen lässt, kann ich Dir vertrauen“. Je länger und je öfter der eine Partner hält, was er verspricht, handelt, wie vorausgesagt und bestätigt, was er hat ahnen lassen, desto leichter fällt es dem anderen Partner, darauf zu vertrauen, dass das Gegenüber im eigenen Sinne oder im Sinne der Partnerschaft handelt. Diese Komponente von Vertrauen, enthält einen gewissen Anteil von SICHERHEIT. Erst wenn sich das Gegenüber positiv verhalten hat, wächst das Vertrauen.

Der anderen Komponente von Vertrauen fehlt dieser Aspekt der Sicherheit. Sie ließe sich am ehesten mit dem Satz: „Ich schenke Dir einen Vorschuss“ beschreiben. Wenn ich einer anderen Person vertraue, WEISS ich NICHT, ob sie sich dieses Vertrauens würdig zeigen wird. Ich habe keine Sicherheit darüber, ob ich enttäuscht werden werde oder alleine gelassen oder verletzt. Ich muss Vertrauen schenken, ohne Gegenleistung. Vorerst.

Wenn es zum Vertrauensbruch gekommen ist, zur Untreue, zum Verrat, dann ist es für die betroffene Person mitunter immens schwierig, Vertrauen als Vorschuss zu schenken. Viele Betroffene in meiner Praxis verzweifeln vielmehr fast an dem riesengroßen Misstrauen, das sich breit macht. Das „Du musst es mir beweisen“ der ersten Komponente von Vertrauen bringen manche noch zustande. Doch wie soll man Vertrauen als Vorschuss schenken, wenn da ständig diese Stimmen einem sagen: „Du bist ja bescheuert, wenn du jetzt einfach wieder vertraust! Du hast ja gesehen, dass er/sie dich betrügt! Wenn du vertraust, wirst du wieder verletzt! Du musst Beweise fordern! Du brauchst Versprechungen/Verträge/Absicherungen!“ Und vor allem: „Du musst kontrollieren!“ – Das Handy, die Mails, jeden Kontakt, jedes Gespräch, jede Bewegung… Jedes Wort und jede Tat wird von nun an auf die Waage gelegt.

EIN NEUES PROBLEM ENTSTEHT: DAS MISSTRAUEN IST MIT IM RAUM.

Wo immer das Paar sich hinbewegt…

Oft Monate nach dem Vertrauensbruch noch genauso vehement, wie kurz danach.

Hier gibt es meiner Ansicht nach zwei Optionen, die sich der misstrauische Partner ganz klar vor Augen halten muss:

Natürlich kann der betrogene Partner, der, dessen Vertrauen missbraucht worden ist, versuchen, den „Täter“ zu beobachten und zu kontrollieren. Er kann verlangen, dass der andere ganz genau Rechenschaft ablegt über sein Tun. Oder dieses stark einschränkt, oder auf „gemeinsames Tun“ beschränkt. Vielleicht muss er sogar auf die eine oder andere Weise Buße tun. Doch wird das das Vertrauen stärken? Wird es verhindern, dass, wenn eine Einladung von außen kommt, zu „streunen“, der Partner untreu wird? – Die Beziehung wird durch ein solches Zusammenleben so stark belastet, dass ich als Therapeutin sagen muss: wohl kaum. Eher im Gegenteil. Wenn eine Beziehung als schlecht empfunden wird, ist die Tendenz, dass ein Partner sich plötzlich einer anderen Person zuwendet, natürlich größer, als wenn beide Partner die Beziehung als erfüllend und befriedigend empfinden. So wird also das, was der misstrauische Partner befürchtet, durch sein eigenes Verhalten viel wahrscheinlicher, tritt am Ende als klassische „Selbsterfüllende Prophezeihung“ ein…

Bleibt nur die zweite Option:

Sich auf die Verbesserung der Beziehung zu konzentrieren. Einerseits auf das, was vor dem Verrat vielleicht gefehlt hat. An Bedürfnisbefriedigung, an Kompetenzen, an Vereinbarungen. Andererseits auf das, was gut läuft, gefällt, eine gemeinsame Basis bietet. Und wenn dies nicht klar ist, sich zu bemühen, dies herauszufinden. Aufzuarbeiten, was schief gelaufen ist. – Wenn dann eine „Einladung zu Streunen“ von außen kommt, dann steht dieser Einladung eine bessere, gefestigtere und befriedigendere Beziehung gegenüber. Und die Wahrscheinlichkeit, dass der Partner treu bleibt, vergrößert sich!

Gleichzeitig steht natürlich oft ein sehr großer Aufwand an Selbstberuhigung, Ablenkung, oft auch an Entwicklung von Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit, beim misstrauischen Partner an. Und ein Üben von Vergebung, ja sogar Großmut. – Eine oft wahrhaft große Aufgabe, zu der „Betrogene“ nicht selten erst einmal nicht bereit sind. Oft trifft mich dann die Frage: „Warum muss ICH jetzt die ganze Vertrauens-Arbeit leisten, wo ich doch das Opfer bin?!!!“

Meine Antwort ist immer die selbe: Es ist nicht ganz gerecht… Aber es bleibt kein anderer Weg.

Manchmal braucht es ein paar Anläufe. Manchmal ist der Prozess nicht alleine zu schaffen und professionelle Begleitung ist vonnöten. Manchmal entscheidet der betroffene, betrogene Partner, dass ihm der Aufwand nach den ganzen Verletzungen schlicht zu viel ist. Oder dass er die Kraft nicht hat, diesen Ängsten nicht den Kampf ansagen kann oder will und er lieber aus der Beziehung aussteigt. Dass er sich in ruhigere, sicherere Gewässer begeben möchte.

Natürlich muss der Partner, der das Vertrauen gebrochen hat, jetzt seinen versprechenden Worten nach Besserung Taten folgen lassen und somit die erste Komponente von Vertrauen schaffen. Und natürlich sollte der Vertrauen-schenkende dies nicht zig-Mal wiederholen. (Bei Wiederholungstätern gibt es irgendwann nur noch eine Reaktion: Genügt mir nicht. Ich steige aus.). Doch ohne diese zweite Komponente, den Vorschuss hilft jede Besserung des „Täters“ nichts. Das Misstrauen wird nicht verschwinden, ohne dass das „Opfer“ auch seinen eigenen Beitrag leistet. Manchmal ist Vergeben nicht möglich. Manchmal ist Vergessen nicht möglich. Doch manchmal gelingt der eine Schritt und manchmal sogar beide. Mit einem positiven Seiteneffekt: persönlichem Wachstum.

Damit die Partner sich nicht auf neuer Ebene in Dauerkonflikten finden, gibt es eine Möglichkeit, sich miteinander zu verbinden, die von Paaren oft als sehr hilfreich empfunden wird. Nämlich die, das „Misstrauen“ wirklich als etwas zu betrachten, das der Feind BEIDER Partner ist. Oft sieht sich der schuldige/verdächtigte Partner in einer Situation, wo der andere sozusagen mit seinem Misstrauen verbündet ist, den warnenden Stimmen mehr Gehör gibt als den eigenen Entschuldigungen, Versprechungen und Besserungsbeteuerungen. Er reagiert irgendwann genervt und ohne Zuversicht auf ständige Rückschläge im Vertrauensprozess des Geschädigten. Der misstrauische Partner fühlt sich allein gelassen in einem Zustand, den er nur zum Teil oder gar nicht verursacht hat, unter dem er massiv leidet. Er sieht sich neuerdings auch noch beschuldigt, nicht zum Vorwärtsgehen in der Lage zu sein.

Das Misstrauen als den gemeinsamen Feind zu betrachten, ermöglicht es, in Momenten, wo grüblerische Gedanken und zweifelnde Stimmen zum Bohren, Nachfragen und Kontrollieren zwingen wollen, den Partner zu informieren: „Das Misstrauen ist wieder da, ich komme so schwer dagegen an – Kannst Du mich bitte mal in den Arm nehmen?“ Dies ermöglicht beiden Partnern eine zugewandte Haltung statt eines Rückzugs oder gar gegenseitiger Angriffe.

Und manchmal ist es schon die Lösung für den einen Moment.

Verwandter Blogpost: Eifersucht: Wenn die eigenen Gefühle zum Feind werden.

Eifersucht: Wenn die eigenen Gefühle zum Feind werden

Eifersucht ist ein sehr belastendes Thema. Für den Eifersüchtigen, für den Partner, für die Beziehung. Eifersucht ist ein schwieriges Thema. Ein SEHR schwieriges… Tatsächlich und vor allem, weil uns dabei unsere eigenen Gefühle zu unserem Feind werden.

Gefühle geben uns wichtige Informationen über uns selbst und sie sind existentielle Voraussetzung sowohl dafür, uns in Beziehungen zurecht zu finden wie auch dafür, uns durch unsere Umwelt zu navigieren.

So kann Eifersucht uns klar zeigen, dass uns eine andere Person sehr wichtig ist; dass wir Angst haben, sie zu verlieren.

Dennoch empfinden die meisten Menschen Eifersucht eher als „unbezähmbares Monster“, das sie nicht an ihrer Seite haben möchten.

In der Tat hat Eifersucht überwiegend negative Effekte:

Da ist einmal ihre Unkontrollierbarkeit: Eifersucht treibt uns in den Strudel einer Besessenheit von Gedanken, die uns übermannt und beherrscht und uns zu einer völlig anderen Person macht. Wenn wir uns auf diese Regung konzentrieren, werden wir von ihr aufgesaugt. Sobald wir uns den Gedanken widmen, nehmen sie Besitz von uns. Sie werden zur Obsession. Nicht selten wird dann aus weiß schwarz – Graustufen-Interpretationen sind meist nicht diskutabel.

Verleugnungstendenzen sind ein weiterer schwieriger Aspekt von Eifersucht. Fragen wir Menschen, die nicht in einer Beziehung sind, ob sie eifersüchtig sind, dann kategorisieren sich die meisten als „nicht der eifersüchtige Typ“. Erst in Beziehung werden wir mit dem Phänomen konfrontiert – doch auch da bleiben viele bei der Behauptung, sie seien „eigentlich nicht eifersüchtig“, nur das Verhalten des Partners verursache eine solch außergewöhnliche Reaktion.

In meiner Praxis begegnen mir immer wieder Menschen, die nicht nur einfach versuchen, Eifersucht zu verstecken, sondern trotz heftigster Gefühlswallungen sich selbst einreden, dass sie nicht eifersüchtig sind. Warum?

Weil Eifersucht hässlich ist, weil sie uns verletzlich macht, weil sie uns unsouverän zeigt, weil sie irrational ist und weil wir eigentlich ganz genau wissen, dass wir, wenn wir ihr Raum geben, das, was wir lieben, damit zerstören. Und nicht zuletzt, weil all dies dazu führt, dass wir uns ihrer schämen.

Scham war noch nie ein guter Ratgeber und so täuschen wir uns selbst gerne mit dem Argument, dass, wenn dieses negative, mächtige Gefühl da ist, es irgendwo eine Berechtigung dazu geben muss, einen Anlass, einen triftigen Grund. So kommt ein weiterer negativer Effekt dazu: das Verschieben von Verantwortung. Wenn „es“ mich überfällt, dann muss es ja von außen kommen. Und ich bin das Opfer. So muss es einen Täter geben. Und der ist wohl der andere. Der Partner…

Tatsächlich hat manchmal im Vorfeld ein Treuebruch stattgefunden; in einer früheren Beziehung, zwischen den eigenen Eltern als unseren Vorbildern oder auch tatsächlich in der aktuellen Beziehung. Dies erschwert den Umgang mit Eifersucht sehr und macht das Misstrauen mitunter zu einem neuen, in manchen Fällen unüberbrückbaren Problem. Ich werde unten darauf zurückkommen. Dennoch führen Verleugnung, Scham und Verschiebung von Verantwortung dazu, dass viele Menschen eines übersehen: Eifersucht hat in erster Linie mit uns selbst zu tun.

Genauer gesagt mit eigener Selbstunsicherheit und mit unserem Besitzdenken.

Machen wir uns nichts vor: natürlich wären wir alle gerne so selbstbewusst, uns zu sagen, dass wir attraktiv und interessant genug sind, dass wir genügend liebenswerte und bewundernswerte Attribute besitzen und in der Gesamtheit so begehrenswert sind, dass unser Partner sich, auch bei Einladungen von außen, niemals in einer Art verhalten würde, die wir als ein Sich-anderen-zuwenden oder Uns-etwas-wegnehmen oder gar als illoyal oder untreu bezeichnen würden. Oder als Zeichen einer ungenügenden Beziehung mit uns. – Sind wir aber meist nicht. Denn das genau ist die Angst hinter Eifersucht: ungenügend zu sein.

Eifersucht signalisiert uns Gefahr. Wenn wir uns unserer Selbstunsicherheit nicht bewusst sind, dann führt uns diese vermeintliche (oder manchmal tatsächliche) Gefahr dahin, den anderen zu verdächtigen. Was zunächst nur ein Verdacht ist, wird durch unser Denken und Grübeln und unsere negativen Gefühle plötzlich zum Tatbestand. Wir unterstellen unserem Partner unzuverlässig, unbeständig, untreu, heuchlerisch, verräterisch zu sein. Was wir nicht mit Sicherheit wissen. Mehr noch: hätten wir die erleichternde Gewissheit, würde sie uns gleichzeitig wieder verletzen, ja zerstören. – Ein unseliger Abwärtsstrudel…

Die zweite Angst hinter Eifersucht ist die Angst, jemanden oder etwas zu verlieren, den/das wir lieben, der/das sehr wertvoll für uns ist. Wir können aber nur verlieren, was wir besitzen oder zu besitzen glauben. Hast Du schon mal beobachtet: in der Phase, in der wir einen Menschen „erobern“ sind wir nicht eifersüchtig. Erst mit dem Moment, wo wir ihn „besitzen“ erlauben wir uns diese Regung – womit wir die Person zu einem Objekt machen (spürst Du, wie unangenehm diese Erkenntnis ist? und sofort kommt der Schamaspekt von Eifersucht zum tragen. Verflixt…

Ich liebe Dich – Ich besitze Dich – Ich mache Dir Vorschriften – Ich kontrolliere Dich – Ich glaube irrsinnigerweise, auch im Besitz Deiner Gedanken zu sein: „Ich WEISS, dass Du xy denkst!!!“

Die Rolle des Eroberers macht uns zuvorkommend, verständnisvoll, großherzig, nachgiebig, nett.

Die Rolle des eifersüchtigen Besitzers… –  wollen wir alle nicht haben.

Was tun, wenn der Wille, selbstbewusster zu sein und keine Besitzansprüche zu haben nicht hilft? Was, wenn ich eigentlich selbstbewusst bin und den anderen bereits weitestgehend nicht als meinen Besitz zu betrachten versuche? Und dennoch dieses Gefühl immer wieder habe und nicht wirklich in den Griff bekomme?

Das In-den-Griff-bekommen von Eifersucht hat verschiedene Stadien:

– Bemerken, Bewertungsfreies Beobachten

– Akzeptanz

– Loslassen/Bearbeiten von eigen Anteilen /Grenzen setzen

Als Erstes gilt es, zu beobachten und zu bemerken:

Dass ich plötzlich diese Gedanken habe und diese peinigende Regungen, des Den-anderen-verdächtigen, jemanden anderen unterhaltsamer, hübscher, begehrenswerter, kompetenter zu finden und des Sich-vorstellens, dass der andere ihm/ihr Aufmerksamkeit, Zeit, Gedanken, Zuwendung, vielleicht sogar Körperlichkeit schenken könnte, von denen ich glaube, dass sie mir zustehen und mir zukommen sollten. Dass sich daraus Wut/Ärger entwickelt, ob des (manchmal realen, oft nur potentiellen!) Verhaltens meines Partners und des definierten oder auch unbestimmten Gegenübers, dem eben diese Aufmerksamkeit, Zeit, Gedanken, Zuwendungen etc. zukommen. Dass sich hinter einer solchen Wut Angst verbirgt und Traurigkeit. Und damit verbunden: Schmerz.

Und gleichzeitig, als Zweites, zu akzeptieren:

Ja! Ich bin wohl eifersüchtig! Und ja! Es tut mir nicht gut.

Die Scham, die oft sofort aufkommt gegenüber den eigenen Gedanken und Gefühlen – wie gerne würden wir großzügig dem Partner größeren Spielraum gewähren oder andere Interpretationen über Situationen haben – oder auch gegenüber bereits abgehaltenen Eifersuchtsszenen, in denen wir den anderen anklagen und beschuldigen und empört verlangen, er/sie solle sich gefälligst so verhalten, das man selbst nicht eifersüchtig sein MÜSSE, auch diese Scham müssen wir leider akzeptieren, oder zumindest als existent anerkennen, um mit ihr umgehen zu können. Verleugnen hilft nun einmal nicht.

Doch in diesem Akzeptieren, von allem, was da ist an Gedanken, Gefühlen und Regungen entsteht etwas Neues: Ein Freiraum. Ein Raum, in dem sich Gefühle verändern können. Wenn ich Angst oder Traurigkeit akzeptiere, dann vermindern sie sich nicht selten. In diesem Raum kommt aber noch eine weitere Möglichkeit dazu: die Möglichkeit, loszulassen.

Loslassen braucht diesen Freiraum. Diese Lücke zwischen Reiz und Reaktion, in der ich mich bewusst entscheiden kann, wie ich reagieren will. Loszulassen braucht oft eine willentliche Entscheidung. Eine Entscheidung dazu, nicht mehr Sklave der eigenen Ängste zu sein. Eine Entscheidung, am eigenen Selbstwertgefühl zu arbeiten. Eine Entscheidung, dem anderen zu vertrauen. Loslassen bedeutet nicht, ich stelle mich blind. Es bedeutet nicht, ich setze keine Grenzen, wo ein Verhalten mir nicht gut tut.

Es bedeutet aber: ich tue alles daran, nicht durch ein eifersüchtiges Denken und Verhalten eine Selbsterfüllende Prophezeiung zu erschaffen, in dem ich meine Beziehung durch Eifersucht in einen so schlechten Zustand versetze, dass, wenn denn dann eine „Einladung“ an meinen Partner getragen wird (sei es durch eine Person oder eine Situation), sich einem/einer anderen zuzuwenden in einer von mir nicht gewünschten Art, sich dieser nicht WEGEN ebendiesem von mir kreierten Zustand von mir abwendet.

Es bedeutet, ich vertraue und bemühe mich um eine gute, erfüllte Beziehung. Ich schenke meinem Partner sozusagen einen Vorschuss. (Zum Thema Vertrauen werde ich demnächst einen Text schreiben).

Einen Aspekt müssen wir uns ganz klar vor Augen halten: auch wenn ich mich trenne, bleibt mir MEIN eigener ANTEIL an dem Interaktionsmuster erhalten. Ich nehme ihn mit in die nächste Beziehung, wenn ich ihn nicht davor bearbeite. Und wäre dann nicht die Tatsache, einen Partner zu haben, der mich in meinen Anteilen herausfordert,  eine hervorragende Gelegenheit, ein idealer Übungsplatz, diese Veränderung anzugehen? Und damit eine Chance, aus der Sache als Gewinner hervorzugehen. Unabhängig von Gehen oder Bleiben.

Natürlich ist eine Frage, die wir uns stellen müssen, immer auch: genügt es mir? (Anstelle der Frage „genüge ich“?) Was, wenn ich mir sagen muss: ok, meinen Teil habe ich getan, dennoch empfinde ich das Verhalten meines Partners als verletzend und als unsere Partnerschaft nicht wertschätzend?

Denn, wie auch immer die Situation gelagert ist – sowohl wenn ICH durch meine Lebensgeschichte zu einem eifersüchtigen Menschen geworden bin, wie auch in der Situation, in der MEIN PARTNER sich sehr grenzüberschreitend verhält betreffend die Themen Teure, Solidarität, Loyalität – müssen wir uns am Ende die Frage stellen: kann und will ich damit Leben oder wäre es besser/einfacher/funktionaler mir einen anderen Partner zu suchen, der zu der mir eigenen Art zu „sein“ passt? Es bedeutet auch, mit dem Partner das Gespräch zu suchen über Werte und Grenzen: Was ist Deine Vorstellung von Autonomie und Bindung in einer Beziehung? Wo sind Deine Grenzen, wo meine, jenseits von der Angstbewältigung, die jeder selbst angehen muss. Miteinander die Frage zu beantworten: stellen wir wirklich die gleichen Ansprüche an uns selbst wie an den anderen? Oder wird ein Verhalten, das ich bei mir als völlig harmlos, unbedeutend und akzeptabel betrachte zu einem völlig anders bewerteten Verhalten, wenn es das meines Partners ist – und umgekehrt? Messen wir den anderen wirklich mit dem gleichen Maßstab wie uns selbst? Und wenn wir einfach andere Werte/Standards haben: wessen Standard soll dann gelten? Und nicht zuletzt: eine Verletzung bleibt eine Verletzung, auch wenn der Täter in seinem Tun keine Verletzung beabsichtigt. So muss jeder Mensch seine eigene Grenzen finden, dafür einstehen  und darauf bestehen, dass eine Regel gilt: das Opfer definiert, was eine Grenzüberschreitung ist und nicht der Täter.

Verwandter Blogeintrag: Vertrauen

Achtsamkeit in der Partnerschaft

Umarmung

  • „Immer wieder das gleiche. Ich kann gar nicht anders. Sobald ich das Thema nur rieche, werde ich aggressiv.“
  • „Ich will das gar nicht, aber das passiert so schnell, so schnell kann ich gar nicht denken.“
  • „Das bin gar nicht ich -`es´ reagiert einfach!“

Kommt Ihnen das bekannt vor?

In den meisten Partnerschaften gibt es Themen oder Situationen, die wie ein „rotes Tuch“ funktionieren: Sie ziehen fast magisch unsere Aufmerksamkeit an, wir reagieren darauf reflexhaft und unkontrolliert, meist immer wieder gleich, oft abwehrend, aggressiv oder vermeidend. Die Antwort unseres Partners kommt meist genauso schnell und unüberlegt – ein ganzer Teufelskreis an Reaktionen wird aktiviert und verselbständigt sich.

Da provoziert eine scheinbar harmlose Frage (klassisches Beispiel: „Wo sind denn meine Schuhe/Socken/etc. sind?“) eine Antwort, die einem Vulkanausbruch gleicht („Bin ich denn Deine Mutter?“/“Was glaubst Du denn, wo Du hier bist?“/“Dort, wo Du sie in Deiner Faulheit mal wieder liegengelassen hast!“ und ähnliches).

Manchmal sind es bestimmte Themen (vorzugsweise Sauberkeit und Ordnung, Geld, Schwiegereltern, Kindererziehung u.ä.), manchmal Situationen wie z.B. das nach Hause kommen nach der Arbeit oder der Aufbruch in den Urlaub, die es „in sich haben“.

Auch wenn wir uns dafür ein wenig schämen, wenn wir in ruhigeren Minuten darüber nachdenken; auch wenn wir uns regelmäßig vornehmen, beim nächsten Mal nicht mehr so heftig oder einseitig zu reagieren – beim nächsten Mal ist alles wie gehabt. Die Situation eskaliert, die Kommunikation wird abwertend oder verstummt, keiner fühlt sich gehört oder verstanden und vor allem: keiner fühlt sich wirklich als Herr/Frau der Lage.

Wir sind im Stress.

Wenn wir diese Situationen tatsächlich als Stresssituationen betrachten, sind unsere Reaktionen sogar ganz „normal“.

In der Stressforschung  beschreibt der Begriff der „Präkognitiven Emotionen“ die Erfahrung, dass in bestimmten Situationen heftige körperliche (wie z.B. Herzklopfen, Schwitzen, Muskelanspannung) und emotionale Stressreaktionen so schnell, geradezu reflexhaft, ausgelöst werden, dass überhaupt keine Zeit für gedankliche Abwägungen, Einschätzungen und Entscheidungen bleibt. (Nehmen wir als Beispiel, dass in einer Gegend, wo es Schlangen gibt, etwas gekrümmtes auf dem Weg liegt. Die erste Reaktion entspricht wahrscheinlich erst mal dem, was „eine Schlange!“ auslösen würde.) Die kognitiven Erwägungen erfolgen dann erst in einem zweiten Schritt und erklären sozusagen im Nachhinein, ob die Alarmreaktion überhaupt gerechtfertigt ist. (So wäre im Beispiel des gekrümmten Objekts die Reaktion gerechtfertigt, hilfreich und nötig, wenn es sich tatsächlich um eine evtl. giftige Schlange handelt und Entwarnung wäre gegeben, für den Fall, dass da nur ein Stück Holz auf dem Weg liegt.)

Die moderne Hirnforschung hat tatsächlich entdeckt, dass das lymbische System, das „Gefühlshirn“, den eigentlichen Denkprozessor, die Hirnrinde, durch einen Kurzschluss umgehen kann. Dass emotionale und körperliche Stressreaktionen gewissermaßen den Kognitionen voraus eilen (Joseph le Doux 1999).

Doch was macht die oben beschriebenen Situationen überhaupt zu Stresssituationen für das Paar? Was lässt Socken und Schuhe so wichtig werden? Was „triggert“ uns so?

Wohl das, was wir daraus machen. Die Bedeutung, die die Aussage oder die Situation für uns, oft unbewusst, hat. Viele unserer Reaktionen sind durch unbewusste Vorgänge gesteuert, durch im Unterbewusstsein gespeicherte Erfahrungen oder durch Glaubenssätze, die wir uns im Laufe unseres Lebens eingeprägt haben, deren Existenz wir oft selbst gar nicht wahrnehmen. So kann die Frage nach ein paar Schuhen schnell als ein Appell gehört werden: Du musst für mich sorgen! – Der dann evtl. heftig zurückgewiesen wird. Oder ein Glaubenssatz wie „du musst es allen Recht machen“ führt plötzlich zu einer heftigen Reaktion, weil wir irgendwann überfordert sind, wenn wir ständig diesen Glaubenssatz erfüllen „müssen“.

Andererseits übersehen wir manchmal, dass unser Partner evtl. in dem Augenblick, in dem wir uns begegnen, aus einer „anderen Welt“ auf uns trifft. Vielleicht trägt er gerade noch den ganzen Stress des Tages mit sich herum, ist bereits angespannt, wenn wir aufeinander treffen. Vielleicht stehen wir selbst noch unter dem Druck, den das Verhalten unseres Chefs erzeugt hat oder sind ärgerlich über einen Kollegen, der uns mit seinem Verhalten provoziert hat. Oder der Alltag zu Hause, mit den Kindern, war mal wieder nervaufreibend. Wie auch immer: Weil viele dieser Aspekte unbewusst sind, können wir sie in den entsprechenden Situationen nicht berücksichtigen oder umgehen.

Und so kommt es, dass im Stress nicht nur konfliktgefährdete Situationen und bestimmte Verhaltensmuster, die unsere partnerschaftliche Beziehung prägen, verschärft werden, sondern auch charakteristische negative Persönlichkeitszüge (wer hätte sie nicht!). Wir werden dann buchstäblich zum Prototypen unserer negativen Eigenschaften.

Ist uns zu helfen?

Die konkrete Frage vieler Paare ist: Wie können  wir in Situation x erreichen, dass wir nicht mehr mit Verhalten y reagieren?

Der Paartherapeut Hans Jellouschek empfiehlt, in Situationen, wo das „rote Tuch“ winkt, Methoden aus der Achtsamkeitspraxis zu benutzen, um neuen Handlungsspielraum zu gewinnen. Er folgt damit Viktor Frankl´s Motto:

Zwischen Reiz und Reaktion liegt die Freiheit.

Viktor Frankl

Achtsam sein bedeutet, mit der ganzen Aufmerksamkeit im „Hier und Jetzt“ sein. Zu beobachten, was wirklich ist (nicht, was sein sollte): Wahrzunehmen ohne Veränderungswunsch.

Achtsamkeit in Stresssituationen bedeutet, kurz inne zu halten und wahrzunehmen, was in mir vorgeht, in diesem Moment. Meine innere Reaktion zu beobachten. Was für körperliche Empfindungen habe ich gerade? Sind da ungute Gefühle? Welche Gedanken, Fantasien, Handlungsimpulse habe ich?

Durch Achtsamkeit wird eine Lücke geschaffen, in der die Hirnrinde doch noch zugeschaltet wird. Wenn wir achtsam sind, nehmen wir eine Beobachterposition ein. Dies ermöglicht Distanz, welche wiederum reflektiertes Handeln möglich macht. So können wir uns entschließen, wie wir reagieren möchten. Ob wir den verspürten Ärger rauslassen, uns für eine sachliche Antwort entscheiden oder den Weg einer humorvolle Reaktion gehen, steht uns frei. Da ist aber ein wesentlicher Unterschied: Wir haben die Wahl. Statt des oben beschriebenen „ferngesteuerten“ Zustandes, gelangen wir durch Achtsamkeit in die Position, bewusst zu entscheiden wie wir reagieren wollen.

Damit in Stresssituationen tatsächlich die Möglichkeit besteht, innezuhalten und achtsam zu sein, sind im Vorfeld ein paar wenige Schritte von großem Nutzen:

Das Paar darf wissen, dass es „normal“ ist, zu reagieren, i.e. im Stress „Muster“ zu haben.

Wenn die Partner in einem ruhigen Moment überlegen, welches typische Situationen oder Themen sind, in denen sie immer mit den gleichen Verhaltensweisen reagieren (immer wenn x dann y), dann sind sie besser gewappnet, im konkreten Fall Maßnahmen zu ergreifen. Jellouschek spricht von „roten Ampeln“, von Warnsituationen, -stimmungen, -themen, die die Bedeutung haben „Achtung, gleich sind wir wieder drin!“

Bei aufsteigendem Ärger kann es sehr nützlich sein, diesen mit Verständnis für sich selbst wahrzunehmen und sich klar zu werden, dass in anderen Situationen eine solche Ärgerreaktion durchaus angebracht wäre, dass zudem nur ein Teil von uns verärgert ist, ein anderer Teil gleichzeitig oder zumindest später diese Reaktion evtl. heftig kritisiert. Auch Gunther Schmidt hält es für sinnvoll, als Konferenzleiter seine „inneren Teile“ zu betrachten (Innere Konferenz), im Sinne von: „das bin ich nicht, das ist nur ein Teil von mir“. Um in dieser Beobachterposition die Situation neu zu bewerten. Durch Achtsamkeit entsteht mehr Eigenkompetenz, erleben wir mehr Gestaltungsfähigkeit und mehr Wahlfreiheit.

Ich glaube, dass es eine große Hilfe für Paare in der Beratung ist, neben Kommunikationsfertigkeiten auch Übungen in Achtsamkeit vermittelt zu bekommen. Gerade eben, um den Weg in die Sackgasse zu vermeiden. Achtsamkeitspraxis ist durchaus auch für Menschen attraktiv, die mit Meditation und Spiritualität nichts „am Hut“ haben. Übungen in Achtsamkeit helfen, wieder mehr zu sich selbst zu kommen (Was geht wirklich in mir vor, ganz konkret, gerade jetzt? Welche Wirklichkeit konstruiere ich mir gerade? – aber auch grundsätzlicher: Was entspricht meinem Wesen, wozu kann ich wirklich stehen, wie möchte ich mich verhalten?). Übungen in Achtsamkeit ermöglichen aber auch, durch das „mehr bei sich selber sein“ feinfühliger für den Partner zu werden.

Achtsamkeit in der Partnerschaft gibt uns die Möglichkeit, den Anderen in seinen Gefühlen wahrzunehmen, leichter zu erkennen, was wohl bei ihm grad „ist“.  Optimal natürlich, wenn er selbst achtsam mit seinem „Hier und Jetzt“ umgeht und uns vermitteln kann, was wirklich bei ihm los ist.

So brauchen wir nicht zu deuten, was der Andere wohl meint, welche Wirklichkeit für ihn wohl grad aktuell ist, in welcher „Konstruktion“ er sich gerade aufhält. Achtsamkeit gibt uns die Möglichkeit, den Worten unseres Gegenübers nicht unser Bild, unsere Bedeutung überzustülpen. Sondern die Wirklichkeit des Anderen erfassen zu können und ihm so mit mehr Respekt und Verständnis begegnen zu können.

Mehr zum Thema Achtsamkeitspraxis hier.

Paartherapie bei schwerer Erkrankung eines Partners

Eine schwere, in manchen Fällen chronische, manchmal potentiell tödliche Krankheit eines Partners stellt eine immense Belastung nicht nur für die beiden Partner, sondern auch für die Beziehung dar. Dies gilt sowohl für psychische (z.B. Depression) wie auch körperliche (z.B. Krebserkrankung) Krankheiten.

So ist es in vielen Fällen sinnvoll, neben der ärztlichen und psychotherapeutischen Behandlung des erkrankten Partners, auch als Paar professionelle Hilfe heranzuziehen.

Die Konfrontation mit einer schweren oder chronischen Erkrankung stößt außerordentliche Dynamiken bei beiden Partnern an. Die zuvor in der Beziehung eingenommenen Rollen können nicht mehr erfüllt werden, Aufgaben müssen „umverteilt werden“, neben Angst, Hilflosigkeits- und Überlastungsgefühlen können Schuldgefühle, Ungeduld und Wut auf beiden Seiten auftauchen.

Im Gegensatz zu einer akuten Krankheit ist kein Ende absehbar, was die Gefühle des Ausgeliefertseins und das Empfinden des „nicht mehr Könnens“ verstärkt.

Beide Partner leiden. So brauchen beide, der kranke wie der gesunde Partner, Unterstützung und Beratung. Beide haben das Bedürfnis Wertschätzung und Anteilnahme zu erfahren und ernst genommen zu werden mit ihren Anliegen, Sorgen und Ängsten. Wie sie sich die Partner dies auch gegenseitig geben können, kann Inhalt einer Paartherapie sein.

Unter Umständen haben sich, mit dem schleichenden Beginn der Krankheit, hinderliche Verhaltensweisen und Denkmuster in die Beziehung eingeschlichen, die einen Blick von außen nötig machen, um aufgedeckt werden zu können.

Wurde die Beziehungsqualität schon vor dieser Krise als unbefriedigend beurteilt, so wird die Krankheit manchmal als unüberwindbares Hindernis für das Paar empfunden. Aber auch bei einer als gut empfundenen Beziehung und zusätzlichem guten Willen des gesunden Partners, den kranken Partner nach bestem Können zu unterstützen, kann es in einer solchen Überforderungssituation zu ambivalenter Unterstützung  mit großen Anteilen an Abwertung (z.B. bereitwilliges Helfen mit ständig vorwurfsvollem Gesprächston) oder gar zu feindseliger Unterstützung kommen. Hier ist Klärung nötig und Kommunikationstraining oft schon eine Hilfe.

Eine Tatsache, die sehr oft übersehen wird und die immer wieder zum Scheitern wohlgemeinter Bemühungen führt, ist, dass auch gut gemeinte, empathische Unterstützung dysfunktional sein kann. So lohnt es sich, auch darauf ein Auge zu halten:

Eine schwere Krankheit kann das Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen des Betroffenen stark beschädigen. So kommt es oft zu Gefühlen der Hilflosigkeit, Wertlosigkeit, Hoffnungslosigkeit. Gut gemeinte Zuwendung von Seiten des gesunden Partners, Verständnis, Entlastung, Schonung und Unterstützung werden in solchen Situationen empfunden als Abhängigkeit, Entmündigung, Ungleichgewicht; die eigene Person wird als schwach und dem Gesunden zur Last fallend gesehen. Der gesunde Partner wird als zu mächtig und zu einflussreich empfunden. Dies alles kann dazu führen, dass sich der Kranke noch wertloser, noch hoffnungsloser, noch schuldiger fühlt (diese auch bei Depression typischen Symptome werden dadurch geradezu aufrechterhalten, die Müdigkeit und Antriebslosigkeit in der Folge verstärkt, was wiederum die Selbstkritik und Selbstabwertung vermehrt. Ein Teufelskreis entsteht). Außerdem wird oft die Krankenrolle durch diese Privilegien der Schonung, Fürsorge und Unterstützung noch unterstützt.

So können sich, manchmal ziemlich abrupt, oft aber über Jahre sich einschleichend, Muster entwickeln, die dazu führen, dass die Beziehungsqualität abnimmt, statt wie gewollt sich zu verbessern. Zumal sich der gesunde Partner chronisch selbst überlastet, seine Bedürfnisse und Interessen vernachlässigt, sich immer stärker als unwirksam und hilflos empfindet.

So ist es Bestandteil einer begleitenden Paartherapie, den Partnern zu zeigen, dass konstruktive Unterstützung nicht nur liebevollen, verständnisvollen Umgang meint, sondern auch klares und grenzsetzendes Verhalten auf beiden Seiten verlangt; dass die Selbstpflege des Gesunden genauso wichtig ist und nicht nur einseitige, sondern gegenseitige Unterstützung gefragt ist. Diese Reziprozität ist zentral, um das Gleichgewicht in der Partnerschaft zu erhalten bzw. wieder herzustellen. Die Annahme, dass der kranke Partner nicht auch ein unterstützender sein kann, weil es ihm zu schlecht geht, kann, wie soeben gezeigt, überaus schädlich sein. Natürlich kann es sich in vielen Fällen nicht um ein 1:1 Geben und Nehmen handeln, das Ziel ist eher ein „so viel wie möglich“.

So geht es in dieser Wechselseitigkeit um gegenseitiges Kommunizieren von eigenen Gefühlen, Überlegungen und Erwartungen (keiner der Partner kann hellsehen!) um ehrliches Feedback und aktives Zuhören. Partnerschaftliche Bewältigung  heißt auch, sich in seinen Schwächen, Ängsten, seiner Traurigkeit und Inkompetenz zeigen zu dürfen.  Es geht um gegenseitiges füreinander Dasein, gegenseitige Unterstützung, gegenseitiges Interesse, gegenseitiges Sich-aufeinander-verlassen-können.

Hier kann begleitende Paartherapie ansetzen.

Jenseits des Problems Krankheit kann nach Lösungen gesucht werden, können Ressourcen gefunden und genutzt werden. Was sind die Stärken des Einzelnen, was sind Stärken der Beziehung, die hier genutzt werden können? Was macht das Paar aus, jenseits des Problems? Die unterschiedlichen Problemlösungsstrategien der Partner wertschätzen zu lernen statt zu kritisieren kann das Problemlösungsrepertoire des Paares erheblich vergrößern. So können emotionale Unterstützung (Mut machen, Wertschätzung, Verständnis) und problembezogene Unterstützung (beim Erledigen von Aufgaben helfen) sich ergänzen, aber auch Ablenkung als Sofortmaßnahme und die Beschäftigung mit hilfreichen Gedanken und positiven Selbstwertüberzeugungen, wie auch die Übernahme von zumutbaren Aufgaben im Alltag als konkrete Maßnahmen. Dies alles muss evtl. zunächst reflektiert und eingeübt werden. Es handelt sich um einen Prozess, der Zeit benötigt, der aber jenseits des partnerschaftlichen Handlings der Krankheit die Möglichkeit in sich birgt, die Beziehung als solches, jenseits der Krankheit, wesentlich zu verbessern.