Mindblowing Sex = Mindful Sex? – Guter Sex und Achtsamkeit, Teil I

Was hat Guter Sex mit Achtsamkeit zu tun?

Zwei Dinge vorausgeschickt: Ich werde hier nicht qualitativ definieren, was „guter“ Sex ist oder zu sein hat. Ein Wesensbestandteil von Menschen ist, dass sie sehr verschieden sind. So sind auch ihre sexuellen Bedürfnisse und Vorlieben sehr unterschiedlich. Schon allein daraus ergibt sich, dass es schlicht keinen allgemeingültigen „Masterplan“ zur Erlangung von befriedigender Sexualität gibt.
Gleichzeitig bin ich selbst sehr dem therapeutischen Anspruch „Respekt vor der Wirklichkeit des anderen“ verbunden. So soll hier „guter Sex“ also für viele verschiedene Vorstellungen stehen. Und lediglich die Bedingungen betrachtet werden, die dahin führen können, dass Menschen Sex als erfüllend empfinden.
Das zweite: ich beziehe mich hier auf Langzeitbeziehungen. Denn hauptsächlich in diesen stellt sich die Herausforderung, guten Sex zu haben, wenn der Verliebtheits-Hormon-Cocktail nicht mehr automatisch dafür sorgt, dass Begehren entsteht. Wenn Neues nicht mehr neu und Unbekanntes schon längst bekannt geworden ist. Wenn nicht mehr nur Abenteuer, sondern auch Bindung, wenn nicht mehr nur kurzfristig Hungerstillen, sondern längerfristig Sattwerden gefragt sind.
Die Frage „Warum habe ich keine Lust auf Sex?“ bzw. „Warum befriedigt mich die Sache mit dem Sex nicht wirklich?“ findet sich mit hartnäckiger Regelmäßigkeit in der paartherapeutischen Praxis. Die Antworten, die die Klienten für sich erarbeiten, finden sich mit erstaunlicher Häufigkeit immer wieder im Bereich Achtsamkeit. Oder besser: Dem Fehlen von Attributen von Achtsamkeit. Gleichzeitig bewegen sich auch die Aussagen sexuell zufriedener Klienten, wenn sie beschreiben, was Sex für sie so befriedigend macht, in diesem Bereich. Genau dort finden sich also auch die Lösungen für die Probleme und Unzufriedenheiten. Deshalb lohnt sich meiner Meinung nach ein Blick auf die Zusammenhänge zwischen gutem Sex und Achtsamkeit.

Was findet statt?

Die obersten Kriterien der allgemeinen Achtsamkeitspraxis sind: Im „Hier und Jetzt“ zu sein, Dinge einfach zu beobachten, zu akzeptieren, wie sie sind, auf Beurteilungen zu verzichten und stets einen neugierigen, unvoreingenommenen Anfängergeist zu kultivieren. (Siehe auch den Eintrag zu Achtsamkeitspraxis hier)
Bei vielen Menschen findet während der sexuellen Begegnung aber tatsächlich Folgendes statt:
Zunächst einmal ist da ein Kopf, voll von Dingen, die uns den Tag über beschäftigen – Da tauchen plötzlich ToDo´s auf, die noch zu erledigen wären, stressige Gedanken betreffend Arbeit, Familie und andere Verpflichtungen oder Sorgen. Oft stehen da auch plötzlich, ganz spontan, unliebsame Fragen im Raum wie: könnten die Kinder etwa reinplatzen oder der Nachbar etwas hören? Oder Bewertungen und Abwertungen (meistens sich selbst betreffend): bin ich nicht einfach zu pumelig, um attraktiv zu sein? Mein/e Partner/in findet das, was ich hier tue bestimmt nicht wirklich sexy…
Oft ist da ein „Ziel“ im Visier. Ungeschrieben und irgendwie doch übereinstimmend: Das Anliegen, den anderen maximal zu erregen und nach Möglichkeit, mal auf direktem, mal auf indirektem Weg zum Orgasmus zu bringen. Und gleichzeitig sollte ich selber noch Begehren spüren und definitiv nicht müde sein… Und eigentlich wollte ich auch selber noch etwas davon haben!
Es herrscht also Stress…
Dies festzustellen ist für manche Paare bereits erleichternd. Zu realisieren, dass sie SO keine guten Chancen haben, Begehren zu entwickeln, geschweige denn Befriedigung zu erfahren. Ein weitere Hilfe kann sein, zu erkennen, dass Sexualität widerstrebende Bedürfnisse vereinigt und deshalb in sich selbst schon einen Konflikt trägt:

Nähebedürfnisse

Einerseits sind da Bedürfnisse nach Geborgenheit, Bindung, Sicherheit, nach Kuscheln, sich wohlfühlen, sich fallenlassen können, nach halten und gehalten werden.
Manchem kommt da „Blümchensex“ in den Sinn, manchen ist Verschmelzung/Eins-werden ein Anliegen. Andere würden es als eine „das Körperliche überschreitende spirituelle Vereinigung“ bezeichnen.

Distanzbedürfnisse

Andererseits sind da ganz andere Bedürfnisse beim Sex auch Antrieb: Lust auf Neues, Unbekanntes, Abenteuer, Risiko, Freiheit. Selbstbestimmung und Individualität. Drang nach Kreativität und Ausdruck.


Nicht nur sind nicht alle Menschen gleich. Auch sind wir alle nicht zu jedem Zeitpunkt die Gleichen. Wir haben unsere guten Zeiten, schlechten Zeiten, unsere Tagesform, unsere Lebensphasen und unseren persönlichen Wandel. Dies betrifft auch unsere ganz persönliche Mischung von Nähe- und Distanzbedürfnissen.

Sehen und gesehen werden

Ein Aspekt, der sehr vielen Menschen wichtig ist, befindet sich außerhalb der Nähe- und Distanzbedürfnisse – er verbindet sie jedoch, ja umschließt sie vielmehr: Wir alle wollen erkannt werden als die, die wir sind und akzeptiert, wie wir sind. Wir wünschen uns sehnlichst, dass da jemand ist, der uns mit allem, was uns ausmacht annimmt, will und begehrt.
Dieses Sehen und Gesehenwerden verlangt aber genau das, was Achtsamkeit ausmacht: Im Hier und Jetzt ganz präsent zu sein, ohne Absicht und ohne Beurteilen oder Verurteilen. Neugierig. Offen. Hier kann neben Begehren ganz vieles noch entstehen: Sinnlichkeit im wahrsten Sinne des Wortes, nämlich mit allen Sinnen wahrnehmen, was geschieht. Empfindungen wahrnehmen und zulassen. Intimität, Vertrauen, Nähe. Aber eben auch Erregung und der ganze Erregungskreislauf von Begehrt werden, erregt werden, erregt sein, begehren, erregen… Mit dem Sich-zeigen-dürfen werden auch Wagnisse möglich und Spiel und Freude.
Da ich in meiner Praxis in den Schwerpunkten Sexualtherapie und Achtsamkeitspraxis arbeite, hatte ich erst den Verdacht, dass mir die Zusammenhänge nur so stark auffallen, WEIL ich mich sehr intensiv mit diesen Bereichen beschäftige.

Doch auch sexualtherapeutische, breit angelegte Studien* belegen, dass ein Großteil der Menschen vor allem folgende Aspekte betreffend Sex als „großartig“ bezeichnet:

  1. Absolut präsent im gegenwärtigen Moment und im eigenen Körper

    Vom gegenwärtigen Augenblick vollkommen absorbiert zu werden, aber hellwach und aufmerksam zu sein, total lebendig und fokussiert, aller Sinne bewusst, bedeutet im „Flow“ zu sein. (Und gleichzeitig bedeutet dies die Abwesenheit von ständigen Gedanken im Kopf, von inneren Stimmen und Kommentaren.)

  2. In tiefer Übereinstimmung und synchronisiert mit dem Partner

    Ein tiefgreifende Wahrnehmung von körperlicher und geistiger Übereinstimmung. Ein winziger Moment manchmal, in dem nicht klar ist, wo höre ich auf und wo fängt der Partner an. Das Gefühl „Eins“ zu sein.

  3. Intimität auf verschiedenen Ebenen spüren

    Tiefe Intimität zu verspüren, die Beziehung, die Erotik und die Sexualität betreffend. Dies setzt tiefes Vertrauen in den Partner voraus und tiefen Respekt füreinender. Beides beginnt weit vor der sexuellen Begegnung. Sich geliebt und gewollt fühlen, akzeptiert und verehrt, gegenseitig füreinander zu sorgen; dies alles führt zum Gefühl von Sicherheit.

  4. Außergewöhnlich gute Kommunikation, verbunden mit tiefer Empathie füreinander

    Die Fähigkeit und die Möglichkeit, frei zu kommunizieren, sei es durch Worte oder durch Berührungen. (i.e. ohne zu beurteilen oder beurteilt zu werden). Berührungen wurden in den Umfragen als sehr hoch geschätzt bewertet. Berührungen als direkte, spezielle, erotische Form von Kommunikation. Auch Empathie wird als ein sehr hohes Gut bewertet. Damit gemeint ist wertfreies Hinhören, Reagieren, Beobachten aber auch das Erkennen von Ungesagtem durch Aufmerksamkeit auf die kleinen Dinge. Und das „Sich-in den-anderen-hineinfühlen-können“: Das Lesen-Können von Reaktionen des Partners durch den eigenen Körper, das Miteinander-in-Verbindung-Treten der zwei Körper durch Berührung.

  5. Authentisch, echt, ungehemmt und transparent sein

    Ganz allgemein ist das Anliegen ein „sich keine Gedanken darüber machen müssen, irgendwie nicht ok zu sein“. Sei es betreffend Aussehen, betreffend Verhalten oder betreffend eigener Anliegen beim Sex. Die Möglichkeit zu haben, auch sich selbst gegenüber ehrlich zu sein und dem anderen alles offen und ehrlich zu zeigen. Sich selbst „vergessen“ zu können (und die eigenen Mäkel und Mängel) und sich dem Verlangen und den eigenen Wünschen vollständig hingeben zu können und auch dem Partner gegenüber emotional absolut transparent und „nackt“ dastehen zu können.

  6. Abenteuerlich experimentieren und Risiken eingehen können beim Spielen und Spaß haben

    Für viele Menschen ist der spielerische, abenteuerliche Aspekt wichtig bei der Empfindung von „gutem“ Sex. Risiken eingehen zu können, bezüglich neuer Ideen und auch mal experimentieren zu können. Seine eigenen Grenzen und die des Partners ständig ein wenig mehr zu erweitern und offen zu sein für Unbekanntes. Dazu gehört eine Portion Humor, damit auch mal etwas misslingen darf, sich nicht gut anfühlen darf, auch mal ästhetisch nicht einwandfrei wirken darf.

  7. Verletzlich sein dürfen/können und sich ganz dem eigenen Begehren hingeben können

    Sich ganz in die Hände des Partners geben zu können, bedeutet verletzlich sein zu können. Es bedeutet Vertrauen zu haben in das Bemühen des Partners, ganz in meinem Sinne und zu meinem Besten zu handeln. Wenn dies möglich ist, dann wird es möglich, das eigene Begehren zu zeigen, dann ist Loslassen möglich, dann ist Hingabe nicht gefährlich sondern höchst erotisch.

  8. Glückseligkeit, Frieden, Transzendenz

    Für manche hat guter Sex etwas Spirituelles, etwas Transzendentes, etwas, das sich ähnlich beschreibt wie ein Meditations-„High“. Manche beschreiben diesen seligen Zustand auch als „frei von Zeit und Raum“. Viele Menschen erfahren guten Sex als „wachstumsfördernd“ für das eigene, persönliche Wachstum, als transformierend oder heilend.

Bemerkenswert:

Es gibt zwei Themen, die in den Studien mit-untersucht werden und die deshalb sehr interessant sind, weil diese Themen in der Öffentlichkeit als Nummer-Eins-Aufhänger für guten Sex gebraucht werden: Die Wichtigkeit der Intensität von körperlichen Empfindungen und Erlebnissen und das Thema „Geilheit“ und Orgasmus. Beide Themen werden in den Antworten der Umfragen als Unterthemen erwähnt. Beide Themen waren aber schlicht NICHT der Fokus der Teilnehmer und wurden NICHT als zentrale Bestandteile von gutem Sex definiert. Es wurde vielmehr hervorgehoben, dass es eher wichtig sei für „guten Sex“, manche Dinge wieder zu verlernen und loszulassen, die uns gesellschaftliche Konventionen betreffend Sexualverhalten auferlegt haben. Das finde ich sehr bemerkenswert.

Gefragt sind hingegen Offenheit, Authentizität, das Bemühen, emotionale Verbindung zu erreichen und Mut. Ganz schön viel … Und gleichzeitig schließt sich hier der Kreis und wir sind wieder beim Thema Achtsamkeit: Wenn wir versuchen, uns den Situationen ohne zu bewerten/zu beurteilen/zu verurteilen zu nähern – auch ohne uns selbst solchen Urteilen zu unterziehen! – dann entsteht ganz von selbst ein neuer Raum, ein Platz im Hier und Jetzt, der mit Präsenz und all den oben aufgeführten Attributen ausgefüllt werden kann. Wer diese ungeteilte, wertfreie Aufmerksamkeit erfährt, fühlt sich unweigerlich „gesehen“ und gut aufgehoben. Was gleichzeitig Gelassenheit und Loslassen ermöglicht. Und eine wirklich intime Begegnung.

Ein paar praktische Ideen, wie Achtsamkeitspraxis bezüglich Sex aussehen kann, findest Du in Teil II.

Studien, auf die ich mich bezogen habe:

Murray, S.H., Milhausen, R.R. & Sutherland, O. (2014) A qualitative comparison of young women´s maintained versus decreased sexual desire in longerterm relationships. Women & Therapy, 37, pp 319-41.

*Kleinplatz, P.J., Ménard, A.D., Paquet, M., Paradis, N., Campbell, M., Zuccarino, D. & Mehak,L. (2009). The components of optimal sexuality: A portrait of „great sex“. The Canadian Journal of Human Sexuality. Vol. 18, pp 1-13.

Paartherapie bei schwerer Erkrankung eines Partners

Eine schwere, in manchen Fällen chronische, manchmal potentiell tödliche Krankheit eines Partners stellt eine immense Belastung nicht nur für die beiden Partner, sondern auch für die Beziehung dar. Dies gilt sowohl für psychische (z.B. Depression) wie auch körperliche (z.B. Krebserkrankung) Krankheiten.

So ist es in vielen Fällen sinnvoll, neben der ärztlichen und psychotherapeutischen Behandlung des erkrankten Partners, auch als Paar professionelle Hilfe heranzuziehen.

Die Konfrontation mit einer schweren oder chronischen Erkrankung stößt außerordentliche Dynamiken bei beiden Partnern an. Die zuvor in der Beziehung eingenommenen Rollen können nicht mehr erfüllt werden, Aufgaben müssen „umverteilt werden“, neben Angst, Hilflosigkeits- und Überlastungsgefühlen können Schuldgefühle, Ungeduld und Wut auf beiden Seiten auftauchen.

Im Gegensatz zu einer akuten Krankheit ist kein Ende absehbar, was die Gefühle des Ausgeliefertseins und das Empfinden des „nicht mehr Könnens“ verstärkt.

Beide Partner leiden. So brauchen beide, der kranke wie der gesunde Partner, Unterstützung und Beratung. Beide haben das Bedürfnis Wertschätzung und Anteilnahme zu erfahren und ernst genommen zu werden mit ihren Anliegen, Sorgen und Ängsten. Wie sie sich die Partner dies auch gegenseitig geben können, kann Inhalt einer Paartherapie sein.

Unter Umständen haben sich, mit dem schleichenden Beginn der Krankheit, hinderliche Verhaltensweisen und Denkmuster in die Beziehung eingeschlichen, die einen Blick von außen nötig machen, um aufgedeckt werden zu können.

Wurde die Beziehungsqualität schon vor dieser Krise als unbefriedigend beurteilt, so wird die Krankheit manchmal als unüberwindbares Hindernis für das Paar empfunden. Aber auch bei einer als gut empfundenen Beziehung und zusätzlichem guten Willen des gesunden Partners, den kranken Partner nach bestem Können zu unterstützen, kann es in einer solchen Überforderungssituation zu ambivalenter Unterstützung  mit großen Anteilen an Abwertung (z.B. bereitwilliges Helfen mit ständig vorwurfsvollem Gesprächston) oder gar zu feindseliger Unterstützung kommen. Hier ist Klärung nötig und Kommunikationstraining oft schon eine Hilfe.

Eine Tatsache, die sehr oft übersehen wird und die immer wieder zum Scheitern wohlgemeinter Bemühungen führt, ist, dass auch gut gemeinte, empathische Unterstützung dysfunktional sein kann. So lohnt es sich, auch darauf ein Auge zu halten:

Eine schwere Krankheit kann das Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen des Betroffenen stark beschädigen. So kommt es oft zu Gefühlen der Hilflosigkeit, Wertlosigkeit, Hoffnungslosigkeit. Gut gemeinte Zuwendung von Seiten des gesunden Partners, Verständnis, Entlastung, Schonung und Unterstützung werden in solchen Situationen empfunden als Abhängigkeit, Entmündigung, Ungleichgewicht; die eigene Person wird als schwach und dem Gesunden zur Last fallend gesehen. Der gesunde Partner wird als zu mächtig und zu einflussreich empfunden. Dies alles kann dazu führen, dass sich der Kranke noch wertloser, noch hoffnungsloser, noch schuldiger fühlt (diese auch bei Depression typischen Symptome werden dadurch geradezu aufrechterhalten, die Müdigkeit und Antriebslosigkeit in der Folge verstärkt, was wiederum die Selbstkritik und Selbstabwertung vermehrt. Ein Teufelskreis entsteht). Außerdem wird oft die Krankenrolle durch diese Privilegien der Schonung, Fürsorge und Unterstützung noch unterstützt.

So können sich, manchmal ziemlich abrupt, oft aber über Jahre sich einschleichend, Muster entwickeln, die dazu führen, dass die Beziehungsqualität abnimmt, statt wie gewollt sich zu verbessern. Zumal sich der gesunde Partner chronisch selbst überlastet, seine Bedürfnisse und Interessen vernachlässigt, sich immer stärker als unwirksam und hilflos empfindet.

So ist es Bestandteil einer begleitenden Paartherapie, den Partnern zu zeigen, dass konstruktive Unterstützung nicht nur liebevollen, verständnisvollen Umgang meint, sondern auch klares und grenzsetzendes Verhalten auf beiden Seiten verlangt; dass die Selbstpflege des Gesunden genauso wichtig ist und nicht nur einseitige, sondern gegenseitige Unterstützung gefragt ist. Diese Reziprozität ist zentral, um das Gleichgewicht in der Partnerschaft zu erhalten bzw. wieder herzustellen. Die Annahme, dass der kranke Partner nicht auch ein unterstützender sein kann, weil es ihm zu schlecht geht, kann, wie soeben gezeigt, überaus schädlich sein. Natürlich kann es sich in vielen Fällen nicht um ein 1:1 Geben und Nehmen handeln, das Ziel ist eher ein „so viel wie möglich“.

So geht es in dieser Wechselseitigkeit um gegenseitiges Kommunizieren von eigenen Gefühlen, Überlegungen und Erwartungen (keiner der Partner kann hellsehen!) um ehrliches Feedback und aktives Zuhören. Partnerschaftliche Bewältigung  heißt auch, sich in seinen Schwächen, Ängsten, seiner Traurigkeit und Inkompetenz zeigen zu dürfen.  Es geht um gegenseitiges füreinander Dasein, gegenseitige Unterstützung, gegenseitiges Interesse, gegenseitiges Sich-aufeinander-verlassen-können.

Hier kann begleitende Paartherapie ansetzen.

Jenseits des Problems Krankheit kann nach Lösungen gesucht werden, können Ressourcen gefunden und genutzt werden. Was sind die Stärken des Einzelnen, was sind Stärken der Beziehung, die hier genutzt werden können? Was macht das Paar aus, jenseits des Problems? Die unterschiedlichen Problemlösungsstrategien der Partner wertschätzen zu lernen statt zu kritisieren kann das Problemlösungsrepertoire des Paares erheblich vergrößern. So können emotionale Unterstützung (Mut machen, Wertschätzung, Verständnis) und problembezogene Unterstützung (beim Erledigen von Aufgaben helfen) sich ergänzen, aber auch Ablenkung als Sofortmaßnahme und die Beschäftigung mit hilfreichen Gedanken und positiven Selbstwertüberzeugungen, wie auch die Übernahme von zumutbaren Aufgaben im Alltag als konkrete Maßnahmen. Dies alles muss evtl. zunächst reflektiert und eingeübt werden. Es handelt sich um einen Prozess, der Zeit benötigt, der aber jenseits des partnerschaftlichen Handlings der Krankheit die Möglichkeit in sich birgt, die Beziehung als solches, jenseits der Krankheit, wesentlich zu verbessern.