Nähe und Distanz

Die Frage, wieviel Nähe oder Distanz in einer Beziehung gelebt werden soll, führt bei vielen Paaren zu Reibungen. Nicht-darüber-reden oder Diskussionen, die nicht an der Basis des Problems geführt werden, haben ernsthafte Konflikte zur Folge. Da wird Autonomie plötzlich zur Freiheit für den einen und zur Gefahr für den anderen. Bindung bedeutet Sicherheit für den einen und Gefängnis für den anderen. Und wie immer, wenn nicht das besprochen wird, was eigentlich zu besprechen ansteht, findet sich keine Lösung, die zur beständigen Zufriedenheit beider Partner führt.

Deshalb lohnt es sich, sich damit zu beschäftigen, was an der Basis des Problems denn geschieht oder geschehen ist: Worum geht es wirklich?

An der Oberfläche geht es meist um Zeit und Raum. Erst einmal: Wieviel Zeit verbringen wir zusammen, wieviel Zeit kann und soll jeder für sich alleine verbringen, beziehungsweise mit anderen, ohne den Partner. Dann: wann soll denn diese gemeinsame bzw. getrennte Zeit stattfinden. Und geschieht dies geregelt-abgesprochen, spontan-flexibel, gleichzeitig, abwechselnd – Was sind die Regeln für Vereinbarungen mit anderen oder für Me-time ganz allgemein? Und zuletzt, jedoch von der Bedeutung her wohl am allerwichtigsten: wozu sollen wir Einzelzeit verwenden? Was soll, darf, kann in dieser Zeit alles geschehen und was ist die Bedeutung dessen – für den einen, für den anderen?

Wenn es aber Spannungen gibt, dann geht es eben nicht nur um Zeit oder Raum, um Organisatorisches, das abzusprechen ist. Unterliegend, an der Basis, fühlt sich einer der Partner oder auch beide durch die Art des anderen, mit Nähe und Distanz umzugehen eingeschränkt oder bedroht. Da kommt es ganz schnell zu Schuldzuweisungen und Unterstellungen, dass man dem anderen ja gar nicht (mehr) wichtig sei, dass alles andere Priorität habe, dass die eigene Person nie genüge und vieles mehr. Auf der anderen Seite wird aufgeführt, dass der Partner alle Zeit, alle Aufmerksamkeit, alle Zuwendung, die zu geben ist, für sich beanspruchen will, dass es nichts und niemanden anderen mehr geben dürfte, wenn es nach seinen Bedürfnissen ginge, dass alles eh nie genügen würde und der Partner auf jeden Fall alles bestimmen und kontrollieren wolle und müsse, damit er sich wohl fühle – am Ende würde keine eigenständige Person mehr existieren.

Auffällig ist, dass beide vom jeweils anderen als ganz schön mächtig empfunden werden. Und man selbst als entsprechend hilflos, ausgeliefert, in der Falle – oder zumindest sehr in Frage gestellt und angegriffen.

Ein Klient hat einmal sehr treffende Worte für dieses Zusammenspiel gefunden:

Ich habe den Eindruck, Dir nie genügen zu können. Was ich mache ist für Dich immer wieder nur der „Beweis“, dass ich es ja nicht so ernst meinen kann mit uns. Wenn ich Zeit mit anderen verbringen will, wenn ich meinem Hobby nachgehen will, wenn ich arbeite, habe ich immer den Eindruck, Du setzt mich unter Druck mit der Erwartung, diesen Quatsch sein zu lassen und mich Dir zu 100% zu verschreiben. Ich weiß, dass Du das nicht willst, aber Deine fortwährende Besorgnis, mir nicht genügen zu können, schürt paradoxerweise meine Befürchtung, Dir nie genügen zu können. Deswegen kommen Deine Bitten auch für mich so „absolut“ rüber, obwohl ich weiß, dass Du sie nicht immer so meinst. Du bittest mich, dies zu verschieben, Du bittest mich, dort mehr dabei sein zu können, Du bittest mich, Dich an verschiedenen Stellen wichtiger zu nehmen – es ist immer das Gleiche: ich fühle mich unter Druck gesetzt und so behandelt, als ob Du mir nicht wirklich eine Wahl lässt, außer Dir nachzugeben. Und das will ich nicht, ich kann das nicht. Ich möchte ein anderer auch noch  sein, ein eigenes Leben auch noch haben…Wie unsere Beziehungsbedürfnisse bezüglich Autonomie und Bindung aussehen, wurde zu einem gewichtigen Teil durch unsere Geschichte und unsere Herkunftsfamilie geprägt und bestimmen bis zum heutigen Tag, wie wir mit Nähe und Distanz umgehen. Diese ersten engen Bindungsbeziehungen wirken wie eine Blaupause für unsere Interpretationen von Situationen in allen späteren engen Beziehungen. Ob ich gemeinsames Verbringen und Gestalten von Zeit und Raum als verbindend, beständig, sicher, beruhigend und wohltuend empfinde oder als kontrollierend, einengend, grenzüberschreitend, „verschlingend“ hängt natürlich vom Ausgestaltung und der Häufigkeit solcher Zweisamkeit ab, aber vor allem auch davon, was wir beim Herzanwachsen und in früheren Beziehungen erlebt haben. Wenn ich als Kind ständig gelenkt, beobachtet, kommentiert, oder gar kritisiert oder abgewertet wurde, dann ist Nähe auch immer belastet durch die Gefahr, dem anderen zu viel Macht über, zu viel Einfluss auf mein Leben zu geben. Hier wird als Folge sehr sorgsam dafür gesorgt, dass stets klar ist, dass jeder eine unabhängige Person ist und bleibt. Spätestens wenn der andere zu viel Kontrolle über den Autonomiebereich haben will, werden die Grenzen bewaffnet. Wenn die Vergangenheit geprägt war von Verlassenheitsgefühlen aus diversen Gründen, bis hin zu Vernachlässigung, dann werde ich es nicht so leicht haben, mit der Abwesenheit des Partners umzugehen. Wenn ich als Kind eine Bezugsperson verloren habe, dann wird es unter Umständen Situationen geben, die andere Menschen als völlig normal, ich jedoch als extrem belastend empfinde. Genauso können vorgelebte Ängste, moralische Standards oder nicht gelebte Nähe in vergangenen Zeiten uns in unseren Interpretationen heute beeinflussen – mal in Richtung Bindung-suchend, mal in Richtung Distanz-wahrend.

Das neue Wissen um diese Zusammenhänge ist meist entlastend. Plötzlich ist nicht mehr der andere „falsch“, plötzlich gibt es andere Verantwortliche für die Reaktionen des anderen, als das eigenen Verhalten. Auch wenn nicht immer ganz klar wird, wie die jeweiligen Interpretationen entstanden sind, so hilft dennoch der Austausch über eben diese Bewertungen und die eigenen Empfindungen.

Wichtig ist also, dass das Paar darüber ins Gespräch kommt. Manchmal sind dies aufreibende, verunsichernde, das „Ganze“ in Frage stellende Diskussionen. Es geht darum, dem anderen die eigene Welt darzulegen. Recht haben zu wollen wird hier nicht helfen. Das Verständnis für die Wirklichkeit des anderen jedoch schon.

Manchmal wird dann klar: unsere Bedürfnisse betreffend Nähe und Distanz passen einfach nicht zusammen. Wenn das Streben nach Autonomie des einen so unakzeptabel, ja gefährlich für den andern ist, dass er ihm immer „die Hölle heiß machen“ wird darüber. Oder ständig in Ängsten und Unzufriedenheit leben muss, die zu glätten nicht gelingt. Wenn die Bedürfnisse des anderen nach Nähe für den einen immer nur „Kontrolle und Ansprüche“ sein werden, denen er sich in keiner Weise unterzuordnen oder anzupassen bereit ist. Dann ist eine Beziehung eventuell einfach zu belastend und eine Trennung eine Befreiung.

Oft wird aber Veränderung möglich. Dabei muss jeder bis zu einem gewissen Maße bereit sein, aus seiner Komfortzone heraus zu treten und dies auch TUN. Um neue Erfahrungen zu machen und damit neue Interpretationen zu gewinnen. Manchmal ist Akzeptanz nötig. Dass der andere sich wohl nicht in einen komplett neuen Menschen verwandeln wird, auch wenn er sich um Veränderung und Kompromisse bemüht. Doch dieses Bemühen auf beiden Seiten kann zu einer neuen, tieferen Verbindung führen, wo im Idealfall erreicht werden kann, dass das Pendeln zwischen den Polen Nähe und Distanz ganz natürlich und ohne Spannungen, vielleicht sogar spielerisch stattfinden kann. Und am Ende alles gleichzeitig stattfinden darf:

In der zweisamen Nähe dennoch Individuum bleiben zu dürfen, eigene Meinungen, Interessen und Bedürfnisse haben zu können. Und in der autonomen Ferne sich stets emotional verbunden zu wissen. Zu wissen, dass Distanz weder Abwenden noch „Streunen“ bedeutet, sondern lediglich, dass der andere eben ein anderer ist und bleiben will. So bietet sich für beide die Möglichkeit, von den beiden entgegengesetzten Polen Nähe und Distanz wegzukommen. Nicht nur das eine zu wollen und zu haben, sondern beides im Wechsel, mal das eine mehr, mal das andere, mal gleichzeitig und sich einig, mal unterschiedlich doch stets „begreifend“.

Die gemeinsame Entscheidung, dies leben und zu pflegen, eröffnet die Möglichkeit einer Beziehung, wo jeder dem andern die Freiheit lässt, sich selbst zu sein, sich zu verändern, zu wachsen. Und gleichzeitig das Gemeinsame unbelastet Nähe und Bindung bedeuten darf.

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