Neuanfang: Wie wir eine Krise als Chance nutzen

Koordinatensystem

Wenn wir vor einem Neuanfang stehen, sind wir oft einmal orientierungslos. Dies gilt auch für Beziehungen. Manch einer gerät in eine persönliche Krise, wenn eine Beziehung zu Ende geht. Für sich selbst ein Koordinatensystem abzustecken kann helfen, neue Wege zu finden und erste Schritte zu gehen.

Veränderungen machen oft Angst

Veränderungen machen oft Angst. Aus diesem Grund lassen wir die Dinge häufig lieber wie sie sind. Das gilt auch für Beziehungen. Oft auch für unbefriedigende, unglücklich machende, dysfunktionale Beziehungen. Wir leiden; doch was wir haben, kennen wir. Was wir kennen, scheint uns sicherer als das Unbekannte – es könnte ja noch schlimmer kommen.

Manchmal jedoch geraten wir in Krisen. Wir befinden uns plötzlich in Situationen, die uns entgleiten. Vielleicht haben wir sie selbst herbeigeführt, vielleicht auch nur unseren Teil dazu beigetragen. In manche geraten wir ganz unverschuldet (z.B. durch den Tod eines geliebten Menschen). Auch wenn wir uns selbst für die Auflösung einer Beziehung entschieden haben, weil es einfach so nicht weitergehen konnte, können wir in eine persönliche Krise geraten.

Der Boden scheint uns buchstäblich unter den Füßen weggerissen, wir verlieren den Halt. Wir befinden uns gefühlsmäßig in einem Dschungel, in dem wir Gefahr laufen, die Orientierung zu verlieren. Wir werden aus gewohnten Zusammenhängen und Abläufen und vielleicht auch aus weiteren zwischenmenschlichen Verbindungen gerissen.

Egal, ob diese Veränderungen von uns initiiert wurden oder nicht, in solchen Krisen brauchen wir Mut. Mut, den wir der Angst entgegenstellen können. Mit diesem Mut eröffnen wir uns die Möglichkeit, die Krise zu einer Chance werden zu lassen: Einer Chance zur Veränderung. Einer Chance für persönliches Wachstum.

Mut zu haben bedeutet erst einmal, die Herausforderung anzunehmen.

Schritte persönlicher Veränderung

Manch einer mag sich fragen: Wie erlange ich diesen Mut? Aus therapeutischer Sicht ist es hilfreich, einige der Schritte etwas näher zu betrachten, die zu persönlicher Veränderung führen können und diejenigen Prozesse ins Auge zu fassen, die förderlich sind, um missliche Lagen als Chance zu nutzen. Sie sind sozusagen die Koordinaten an die wir uns immer wieder halten können, wenn wir Orientierung suchen.

Achtsam sein, Schmerz annehmen, Klarheit gewinnen

Als erstes ist es wichtig, sich darüber klar zu werden, was gerade passiert, hier, jetzt, in dem Moment, wo wir den Boden unter den Füßen zu verlieren glauben. Achtsam sich selbst zu betrachten. Vielleicht können wir uns eingestehen, dass wir gerade einen Verlust erleiden (auch wenn eine Trennung vielleicht befreiend wirkt, bedeutet das Realisieren, in einer Beziehung gescheitert zu sein, oft einen großen Verlust: den Verlust einer Hoffnung, eines Bezugssystems, manchmal eines Lebensplanes). Dann können wir den Schmerz darüber annehmen. Schmerz anzunehmen heißt nicht, ihn mit einem „Hurra!“ willkommen zu heißen oder umgekehrt, darin zu versinken. Schmerz anzunehmen bedeutet, wahrzunehmen, dass mir da etwas wirklich weh tut. Dieses eingestehende „ja, so ist das“, das wertfreie Beobachten dessen, was ist, lässt uns Abstand nehmen, führt uns zu größerer Klarheit. Diese Klarheit bedeutet auch, sich bewusst zu werden, dass alles, was lebt, im Wandel ist. Dinge verändern sich. Auch unsere Beziehungen, auch wir selbst. Achtsam sein mit uns selbst hilft uns, die Situation, in der wir uns befinden und uns selbst, mit unserer Angst, mit unserem Schmerz zu akzeptieren und anzunehmen. Achtsam sein bedeutet in diesem Moment, auch die bestehenden Probleme nicht zu verdrängen, sich andererseits auch in diesen nicht zu verlieren – aber: sie zu betrachten, zu versuchen sie zu benennen, um dann, aus der entstehenden Distanz heraus, feststellen zu können, was wir brauchen und wollen oder eben nicht mehr wollen.

Akzeptanz

Akzeptanz ist ein weiteres wichtiges Element für Veränderung. Sich selbst zu akzeptieren, aber auch den Anderen. Mit allen Unzulänglichkeiten und Unmöglichkeiten. Wenn es uns gelingt, das Gute im Vergangenen zu würdigen und uns selbst und dem Anderen zu verzeihen, dann wird Loslassen möglich. Die Sicht, dass jeder Mensch in einem bestimmten Augenblick das Beste tut, was ihm in diesem Augenblick möglich ist, kann das Verzeihen erleichtern. Manchmal ist es (noch) nicht möglich, dem Anderen zu verzeihen, dann mag es hilfreich sein, sich selbst anzunehmen, als jemanden, der noch nicht verzeihen kann. Das Gute im Vergangenen würdigen, bedeutet nicht nur Dankbarkeit für die schönen Momente und für das, was wir erleben durften. Es bedeutet auch, die Lektionen zu achten, die uns das Leben gelehrt hat, wie auch die Person, die sie uns beigebracht hat. Wenn wir diese Dankbarkeit empfinden können, kann uns das in schwierigen Situationen helfen, uns den zu bewältigenden Aufgaben, dem Neuen zuzuwenden, statt dem Alten anzuhaften. Festhalten, Kontrolle und der Versuch zu manipulieren, bringen nur neuen Schmerz. Wenn es gelingt loszulassen, dann wird der Blick nach vorne frei.

Der Blick nach vorne bedeutet: Motivationen zu suchen, Ressourcen aufzuspüren, ein Ziel anzuvisieren.

Motivationen und Ressourcen suchen

Hier wird nun ganz wichtig, unsere Wahrnehmung auf das Hilfreiche, Förderliche, Vorwärtsbringende zu richten. Wir können Dinge und Situationen stets von verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Wir nehmen sie unterschiedlich war, je nachdem, worauf wir achten, welche „Brille“ wir tragen, wie wir das, was wir sehen bewerten.

Wenn mein Partner mich verlässt, weil er mich nicht mehr liebt, kann ich das als großes Unglück sehen, als Abwertung, als Verletzung, als Zeichen, versagt zu haben, nicht wertvoll  oder wichtig genug zu sein oder gar als Schande.

Ich kann es aber auch als Chance sehen, mir einen neuen Partner zu suchen, der besser zu mir passt, der mehr auf mich eingeht, mich mehr respektiert. Und mich befreit fühlen von einer unglücklichen Beziehung, die ich vielleicht selbst nie verlassen hätte. Vielleicht gelingt es mir sogar, mir bewusst zu machen, dass ich, obwohl mich mein Partner nicht mehr liebt, dennoch ein liebenswerter Mensch bleibe; und er auch.

Dies nur als Beispiele für Bewertungen, die wir vornehmen könnten. Was in jedem Fall zutrifft: wir werden uns entsprechend der vorgenommenen Bewertungen fühlen. Traurig, wütend, beschämt einerseits oder glücklich, gelassen, befreit andererseits.

Es ist also hilfreich, sich ein Bild zu machen darüber, wie wir uns unsere Wirklichkeit konstruieren. Das braucht etwas Übung. (Manche dieser Betrachtungsweisen werden uns vielleicht nie klar, wir betrachten schließlich gewisse Dinge schon einen großen Teil unseres Lebens in gleicher Weise!). In dem Moment, wo wir einen Neuanfang machen wollen, ist es aber äußerst wichtig, unsere Aufmerksamkeit auf solche Sichtweisen und Bewertungen zu richten. Wenn ich glaube, dass ich etwas schaffe, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass eben dies eintrifft um ein Vielfaches größer, als wenn ich von vornherein glaube, das was ich vorhabe, sei aussichtslos!

Wer erfolgreich neue Wege gehen will, richtet seinen Blick ganz bewusst auf das, was ihn unterstützt und motiviert, was ihm Halt gibt und Kraft. Was brauche ich gerade? Wie kann ich es erreichen? Was würde mir Freude machen, mich entspannen, was mir helfen, diese schwierige Aufgabe zu bewältigen? Welche Personen bauen mich auf, können mir als Vorbild dienen, welche Kontakte sollte ich im Augenblick eher meiden, weil sie mich zu viel Energie kosten? Welche Fähigkeiten habe ich, die mich weiterbringen? Welche Erfahrungen habe ich schon gemacht, die mir jetzt helfen können? Gab es schon ähnliche Situationen, die ich erfolgreich gemeistert habe und wie ist mir das gelungen?

Mit diesen Hilfen im Gepäck können wir unseren Fokus auf einen neuen Weg, ein neues Ziel richten.

Ein neues Ziel vor Augen

Wenn wir wissen, was uns stärkt, motiviert, Freude bereitet, dann ist das oft schon ein Hinweis darauf, wohin der Weg gehen soll. Sich konkret ein Ziel vor Augen zu halten, ist ein nächster Schritt. Denn: nur wenn ich ein Ziel habe, kann ich ein Ziel erreichen! Wo will ich enden? In welcher Situation, Umgebung, Gesellschaft, Beschäftigung? Welche meiner Eigenschaften und Vorlieben sollen Raum erhalten?Welche Werte sollen dort zum tragen kommen, welche Bedürfnissen soll Rechnung getragen werden? Allzu oft wurde vor der Krise nur der Frage gefolgt „Genüge ich?“. Die Fragen „Genügt es mir?“ oder „Was entspricht mir?“ sind aber genauso wichtig, wenn wir dauerhaft glücklich sein wollen. Nun ist Gelegenheit dazu, die Krise als Chance zu nutzen!

Wer erfolgreich Veränderungen vornehmen will, hat mit dem Annehmen der eigenen Persönlichkeit und dem Akzeptieren der Situation, dem Loslassen von dem, was loszulassen ist und dem Ziel vor Augen, wohin der Weg gehen soll, den hilfreichen Gedanken und der förderlichen Wahrnehmung schon ein taugliches Koordinatenpaket geschnürt, mit dem er sich auf den Weg begeben kann. Nun ist es wichtig, sich auch entschlossen in Bewegung zu setzen.

In Bewegung kommen

Etwas zu verändern, in Bewegung zu kommen, bedeutet: aktiv daran zu arbeiten. Wir selbst sind verantwortlich. (Egal, ob wir Schuld an Vergangenem haben oder nicht, für Zukünftiges tragen wir Verantwortung.) Das kann heißen: Kontakte knüpfen, um Hilfe bitten, Unterstützung organisieren, sich ablenken, wo Ablenkung kurzfristig nötig ist. Um dann wieder beherzt einen nächsten Schritt zu tun. Neue, ungewohnte, beängstigende Situationen aktiv anzugehen, braucht, wie gesagt, Mut. Gerade wenn Schritte anstehen, die uns Angst einflößen, müssen wir uns bewusst machen, dass Angst zurückweicht, wenn man ihr in die Augen schaut. Das bedeutet: Die Aufgabe als Herausforderung betrachten, statt als Bedrohung, um diese dann in „kleinen Portionen“ zu bewältigen. Kleine Schritte gehen! Mit jeder beängstigenden Situation, der wir uns einmal gestellt haben, wird es leichter.

Gnädig uns selbst gegenüber

Wenn wir merken, wir kommen nicht weiter, betrachten wir wiederum achtsam die Situation: Was passiert gerade? Wo habe ich einen nicht hilfreichen Blickwinkel eingenommen? Trage ich gerade die falsche „Brille“? Oder habe ich vielleicht noch nicht wirklich gesehen, was zu verändern ist? Vielleicht müssen wir uns auch wieder in Selbstakzeptanz üben und uns für den Moment eingestehen, dass wir uns das zwar wünschen würden, aber zu einem bestimmten Schritt noch nicht ganz bereit sind. Seien wir gnädig mit uns.

Wir brauchen nicht zu versuchen, etwas zu erzwingen. Tun wir die Schritte, die in dem Moment gerade etwas leichter fallen, werden die anderen folgen. Wir dürfen darauf vertrauen, dass gewisse Prozesse von selbst ablaufen, wenn wir sie zulassen. Immer im Bewusstsein, dass wir dahin kommen, wohin wir uns ausrichten, wohin wir steuern.

Wenn wir im Augenblick noch keinen Mut finden, nicht loslassen wollen, nicht verzeihen wollen, dann dürfen wir uns für den Moment getrost eingestehen, dass das so ist. Dann dürfen wir uns selber als jemanden akzeptieren, der noch nicht vorwärts gehen kann. Wertfreie Akzeptanz, dass gewisse Dinge sind, wie sie sind, schafft Klarheit. Klarheit ist der erste kleine Schritt zur Freiheit, Entscheidungen zu treffen.

Manchmal hilft es, auf dem Weg durch die Krise jemanden an der Seite zu haben. Einen Freund, ein Familienmitglied, einen Coach, einen Berater. Wohlwollende Unterstützung und der Blick von außen machen manche Schritte einfacher.

Doch manchen reicht die aussichtsreiche Perspektive, das Ziel am Ende des Weges, um den Mut zu fassen, die Herausforderung anzunehmen, die Veränderung zu wagen, sich auf den Weg zu machen, im Vertrauen darauf, anzukommen. Die Krise als eine Chance zu nutzen.

Ghosting

Ghosting – Negative Nebeneffekte des Online-Datings

Kein aktueller Steit, keine nennenswerten Probleme, keine Andeutungen, dass etwas nicht passt, keine Bemerkung, keine Nachricht…Weder auf dem Anrufbeantworter, noch per sms oder whatsapp. Nichts…

Doch der Freund oder Partner ist nicht auffindbar, nicht erreichbar. Tagelanges Warten, Kontaktversuche per Anruf, Mail, Textnachricht, Klingeln an seiner Tür. Nichts…

Ist er unerwartet zu beschäftigt? Ist ihm etwas zugestoßen? Vielleicht jemandem in seiner Familie?

Sorge, Angst, liebevolle Gedanken wechseln sich ab…wieder Angst… aufkommende Wut – was fällt ihm ein?! Bohrende Ungewissheit…

Kein Lebenszeichen. Nichts. Nichts und nochmal nichts…

Oft auch nach Jahren nicht.

Ghosting. 

Wenn ein Mensch beschließt, aus dem Leben eines anderen Menschen zu verschwinden.

Ein Extremfall. Mit verheerenden Folgen.

„Er hat gesagt, er geht Zigaretten holen… und war für immer verschwunden“.

(Die männliche Form meint im ganzen Text den Menschen und umfasst somit alle männlichen und weiblichen Ghosting-Praktizierenden und -Betroffenen) 

Das Phänomen ist nicht neu.

Doch was früher selten geschah, gar nicht so einfach zu bewerkstelligen war und eine extreme Unverfrorenheit voraussetzte (hier pathologisierende Schubladen zu öffnen, ist meiner Meinung nach nicht hilfreich), kommt immer häufiger vor. 

Dass Menschen, die wir für Freunde gehalten haben, für unsere Liebhaber oder gar unsere Partner sang- und klanglos aus unserem Leben verschwinden. 

Wir haben heute, im Zeitalter von Online-Dating, Internetportalen, Apps wie „Tinder“ oder „Friendscout“ eine Kulisse für ein Szenario, das es bis vor ein paar Jahren nicht gab:

Es ist möglich, innert kürzester Zeit jemanden kennenzulernen, mehrmals am Tag zu „chatten“, sich regelmäßig und häufig zu treffen, sich zu verlieben, als Paar zu verstehen und viel Zeit miteinander zu verbringen, gemeinsam und in Gedanken aneinander. – Ohne gemeinsame Freunde zu haben, ohne dass uns irgendjemand bekannt gemacht hätte, ohne dass unsere Familien den Partner oder einander kennen, manchmal ohne dass überhaupt jemand aus unserem Umfeld von dieser Beziehung weiß. Eine Beziehung bar jeglicher sozialen Einbindung.

Manchmal war es so gewollt. Manchmal kommt es einfach so. Der inhärenten Bindungslosigkeit der Sozialen Medien entspricht eine verpflichtungsfreie Kommunikation, welche wiederum potenziell commitmentfreie Beziehungen entstehen – und vergehen – lässt.

Manch einer mag noch nicht mal geplant zu haben, so zu verschwinden. Doch das Angebot entsteht aus der Art der Begegnung heraus  und ist scheinbar sehr verlockend: Dinge verschweigen zu können, die ein Fortfahren in der Beziehung (manchmal von Anfang an) unmöglich machen und sich im gewünschten Zeitpunkt aus der Beziehung zurückzuziehen, ohne sich Konflikten, Tatsachen oder dem Partner stellen zu müssen.

Es gibt Schätzungen, dass jeder Zweite, der Bekanntschaften über Soziale Medien schließt, von Ghosting betroffen ist, oder Ghosting schon begangen hat.* 

Die Tatsache, dass vermehrt Menschen Therapeuten aufsuchen, weil sie mit den Folgen von Ghosting nicht klar kommen, ist ein Zeichen dafür, dass die Unverbindlichkeit nicht beiden Partnern klar war oder nicht von beiden gewollt; dass einer der Partner der Meinung war, eine richtige, enge, wertvolle Beziehung zu einem Menschen aufgebaut zu haben. Dass ein Verbundenheitsgefühl und der Glaube entstanden waren, dem anderen wirklich wichtig zu sein. Manchmal hatten beide Partner von Liebe gesprochen oder hatten eine sexuelle Beziehung oder verstanden sich als Paar. Oder gar alles gleichzeitig.

Es gibt durchaus Menschen, die sich angesichts einer solchen Verhaltensweise des Anderen einfach umdrehen können. Im Sinne von „Wer mich nicht liebt, ist mich nicht Wert.“.

Doch die meisten fühlen sich respektlos und gleichgültig behandelt, missbraucht, weggeworfen. Die stattfindende Abwertung wird als „zerstörend“ empfunden. Das Nicht-mehr-erreichen-können des Anderen, die plötzliche Unmöglichkeit von Nähe und Kontakt veranlasst viele zur Aussage „Ich glaube, ich drehe durch!“

Die Suche nach Orientierung und Selbstwirksamkeit bringt die meisten dazu, in der ersten Phase auf allen Kanälen auf die Suche nach dem Verschwundenen zu gehen, gegebenenfalls vorhandene Kontaktpersonen anzurufen, nachzufragen, nachzuspionieren. Manchmal werden sie sogar fündig. Um dann festzustellen, dass Bezugspersonen oder Freunde zur Verleugnung oder zum Schweigen verpflichtet wurden. In manchen Fällen versteckt sich die geliebte Person nicht allzu geschickt oder zu angestrengt. Um dann aber in aller Heftigkeit klar zu machen, dass kein Kontakt mehr erwünscht sei. – Das müsse doch schon längst klar gemacht worden sein…

Immer noch also gibt es keine Erklärung, keine Orientierung; ist keine Auseinandersetzung mit der Situation und dem betroffenen Partner möglich. Doch das Bedürfnis nach Orientierung ist eines unserer wichtigsten Beziehungsbedürfnisse. So wirkt die Erfahrung wie ein Pflug im Feld der Seele der Betroffenen. Nichts bleibt am Ort, nichts ist mehr klar.

Die Unmöglichkeit, den Verschwundenen mit der eigenen Erfahrung zu konfrontieren, ihm zu verstehen zu geben, welchen Schmerz er verursacht, die Unmöglichkeit, die eigene Wirklichkeit mit der Wirklichkeit des Anderen zu vergleichen, keine Informationen über die wirklichen Beweggründe, die Absichten und die Gefühle des Anderen zu haben, machen es für die Betroffenen oft monatelang unmöglich, die Erfahrung zu verarbeiten, die Wunden zu heilen, die Person loszulassen und im eigenen Leben weiter zu gehen.

Die Situation ist eine extreme Belastung für den Selbstwert jeder Person. Ist das Selbstwertgefühl ohnehin schon nicht sehr ausgeprägt, ist ein „Umdrehen und erhobenen Hauptes weitergehen“ oft nicht möglich.

Was kann Dir helfen, wenn Du von Ghosting betroffen bist?

  • Als erstes die Erkenntnis, dass die vordringlichsten Fragen nie beantwortet werden werden. „Habe ich mir selbst etwas vorgemacht? Habe ich mich wirklich dermaßen in diesem Menschen getäuscht? Habe ich die Situation und die vielen Momente so falsch eingeschätzt? Was habe ich falsch gemacht? Habe ich etwas falsch gemacht? Was hat dazu geführt, dass man mich so behandelt?…“ Diese Fragen werden nie beantwortet werden. Auf jeden Fall nicht aus dem Blickwinkel und dem Standpunkt des Verschwundenen. Deshalb hilft es zu einem gewissen Grad, wenn Du, in Ermangelung der Aussicht auf Antwort, die Fragen fallen zu lassen versuchst.
  • Verzichte darauf, darüber nachzudenken, was das Tun des Anderen über Dich aussagt! Was jemand tut, der „ghostet“ sagt nichts über Dich oder Deinen Wert als Mensch aus. Es sagt jedoch sehr viel über denjenigen aus, der Dich so behandelt. Es sagt, dass der Andere nicht mit seinen eigenen Gefühlen oder mit Deinen klarkommt, sich ihnen oder der Situation nicht stellen will oder kann. Er ist sich nicht über die Auswirkung seines Verhaltens im Klaren oder sie ist ihm evtl. einfach gleichgültig. Er ist aber in jedem Fall eines: nicht fähig, eine gesunde, reife Beziehung zu führen.
  • Dann: Versuche, LOSZULASSEN! Es ist schwer, ganz klar. Kleine „praktische“ Schritte sind hilfreich:
  • Versuche die ständigen Kontaktaufnahmeversuche zu beenden. Auch das ständige schauen, ob die Person irgendwo „online“ ist, hält Dich in der Situation gefangen.
  • Rufe nicht immer wieder vorhandene Fotos auf, um Dich an Situationen oder das Gesicht der Person zu erinnern. Lese für eine Weile keine alten Messages oder Briefe, verzichte darauf, Musik zu spielen, die ihr gemeinsam gehört habt. Kreiere Abstand. Alle diese Aktionen würden die alten Gefühle wieder aktivieren, den ganzen Cocktail an Botenstoffen und Hormonen im Hirn, und Du wirst wieder „rückfällig“. (Liebeskummer ist tatsächlich betreffend die Vorgänge im Hirn eine Art „Entzug“ – bis Du darüber hinweg bist, solltest Du also besser von Erinnerungsstücken Abstand halten oder sie vernichten/jmdm zur Verwahrung geben).
  • Versuche, Dich abzulenken, in den Momenten, wo die Situation schwer auszuhalten ist. Damit sind keinesfalls suchterzeugende Aktivitäten oder Stoffe gemeint, sondern Unternehmungen und Aktivitäten, die Dir Spaß machen. 
  • Sorge auch sonst gut für Dich: Tu Dinge, die Du gut kannst, bei denen Du Anerkennung erfährst, Dinge die Dir gut tun, bei denen Du Kontakt zu anderen und zu Dir selbst erlebst und Sinn. Dein Selbstwert ist angeschlagen, er braucht ganz viel “ Futter“ jetzt.
  • Rede mit Freunden oder anderen Personen, die Dir urteilsfrei zuhören. Falls es keine solchen Personen gibt, scheue Dich nicht professionelle Hilfe zu suchen.
  • Gib Dir auch immer wieder Gelegenheit, den Schmerz zu spüren, ohne Dich jedoch hineinfallen zu lassen. „Ich habe Schmerz, ich bin aber nicht mein Schmerz“ ist eine hilfreiche Haltung, die uns ausreichend Abstand nehmen lässt, ohne den Schmerz zu unterdrücken.
  • Manche empfinden es als „Erlösung“, wenn sie realisieren, dass sie nicht Ursache des Verhaltens des Anderen gewesen zu sein brauchen – dann wird plötzlich möglich, dass aus Verzweiflung Empörung wird. Wutausdrücke oder beschimpfende Worte über den Verschwundenen werden dann oft als kurzfristig erleichterne Reaktionen genutzt. Doch auf längere Sicht hilft nur eins: Auch den Groll loszulassen. Groll bindet uns gedanklich und emotional ständig und immer wieder neu an den Anderen. Die Einsicht, dass wir durch das Hegen von Groll Negatives in uns nähren und bei uns behalten, hilft oft, dass das Loslassen etwas leichter wird. Manchmal lässt auch der Gedanke, dass da ein Mensch ist, der „nicht anders konnte“ oder auch in seinem „nicht anders wollen“ einfach keine anderen Fähigkeiten hatte, uns versöhnlich werden und Vergebung möglich. Vergeben ist ein Akt des Willens, doch manchmal braucht es Zeit, bis es möglich ist, diesen aufzubringen.
  • In manchen Fällen wiegt die Trauer über den Verlust des geliebten Menschen schwerer als jede andere Emotion. Schließlich ist da jemand verloren gegangen, der Dir viel bedeutet hat, der wertvoll für Dich war, dessen Existenz Dich ausgefüllt hat. In Gegenwart und in Gedanken. Zeitlich wie auch gefühlsmäßig. Der jetzt eine Lücke hinterlässt. Dieser Verlust verlangt Trauerarbeit, Zeit und Geduld.
  • Zum Schluss: Lehne die Opferrolle blankweg ab. Ganz einfach aus dem Grund, dass ein Opfer dem Tun des anderen ausgesetzt ist. In dieser Rolle bist Du „ausgeliefert“, „hilflos“, „passiv“. Wenn wir uns eingestehen, dass wir zumindest dadurch Täter werden, dass wir von den Handlungen des Anderen unser Befinden abhängig machen, dann können wir in diesem Bereich anfangen, Veränderungen vorzunehmen. Wir müssen uns im Klaren sein: Das Verhalten und die Reaktionen des Anderen können wir nie steuern – sie liegen immer außerhalb unserer Kontrolle. – Aber wie wir mit uns selbst umgehen, ob wertschätzend oder abwertend, das liegt in unserer Hand.

Und so kann vielleicht die Erfahrung, „geghostet“ zu werden zu einer Chance werden.

Einer Chance, Selbstfürsoge zu erlernen. Denn selbst wenn wir tatsächlich keine Möglichkeit mehr haben, die Beziehung zu diesem Menschen zu gestalten, haben wir immer die wunderbare Gelegenheit, die Beziehung zu uns selbst zu verändern: 

  • Besser auf die eigenen Bindungsbedürfnisse zu achten und darauf Rücksicht zu nehmen, wenn wir überlegen, ob ein Partner zu uns passt oder nicht.
  • Die eigenen Bedürfnisse als wichtig genug erachten, um uns den Menschen zuzuwenden, die bereit sind sich mit uns auseinanderzusetzen und auch mit Problemen und Unstimmigkeiten, falls welche auftauchen.
  • Unsere Bedürfnisse klar zu artikulieren und Grenzen setzen zu lernen, freundlich aber bestimmt, dort, wo darauf keine Rücksicht genommen wird oder ihnen ausgewichen wird.
  • Menschen zu suchen, die sich nicht bedroht fühlen durch Nähe, Verantwortungsübernahme oder dadurch, sich verletzlich zu zeigen.

Wir sind alle verletzlich. Und wir können nicht vermeiden, verletzt zu werden. Doch wenn wir Selbstfürsorge an erste Stelle stellen, dürfen wir gleichzeitig verletzlich bleiben und gleichzeitig offen für neue Beziehungen.

Für die 50% Angabe und für weitere Fakten im Post siehe: Jennice Vilhauher Ph.D. „Why ghosting hurts so much“ in www.psychologytoday.com