Kein aktueller Steit, keine nennenswerten Probleme, keine Andeutungen, dass etwas nicht passt, keine Bemerkung, keine Nachricht…Weder auf dem Anrufbeantworter, noch per sms oder whatsapp. Nichts…
Doch der Freund oder Partner ist nicht auffindbar, nicht erreichbar. Tagelanges Warten, Kontaktversuche per Anruf, Mail, Textnachricht, Klingeln an seiner Tür. Nichts…
Ist er unerwartet zu beschäftigt? Ist ihm etwas zugestoßen? Vielleicht jemandem in seiner Familie?
Sorge, Angst, liebevolle Gedanken wechseln sich ab…wieder Angst… aufkommende Wut – was fällt ihm ein?! Bohrende Ungewissheit…
Kein Lebenszeichen. Nichts. Nichts und nochmal nichts…
Oft auch nach Jahren nicht.
Ghosting.
Wenn ein Mensch beschließt, aus dem Leben eines anderen Menschen zu verschwinden.
Ein Extremfall. Mit verheerenden Folgen.
„Er hat gesagt, er geht Zigaretten holen… und war für immer verschwunden“.
(Die männliche Form meint im ganzen Text den Menschen und umfasst somit alle männlichen und weiblichen Ghosting-Praktizierenden und -Betroffenen)
Das Phänomen ist nicht neu.
Doch was früher selten geschah, gar nicht so einfach zu bewerkstelligen war und eine extreme Unverfrorenheit voraussetzte (hier pathologisierende Schubladen zu öffnen, ist meiner Meinung nach nicht hilfreich), kommt immer häufiger vor.
Dass Menschen, die wir für Freunde gehalten haben, für unsere Liebhaber oder gar unsere Partner sang- und klanglos aus unserem Leben verschwinden.
Wir haben heute, im Zeitalter von Online-Dating, Internetportalen, Apps wie „Tinder“ oder „Friendscout“ eine Kulisse für ein Szenario, das es bis vor ein paar Jahren nicht gab:
Es ist möglich, innert kürzester Zeit jemanden kennenzulernen, mehrmals am Tag zu „chatten“, sich regelmäßig und häufig zu treffen, sich zu verlieben, als Paar zu verstehen und viel Zeit miteinander zu verbringen, gemeinsam und in Gedanken aneinander. – Ohne gemeinsame Freunde zu haben, ohne dass uns irgendjemand bekannt gemacht hätte, ohne dass unsere Familien den Partner oder einander kennen, manchmal ohne dass überhaupt jemand aus unserem Umfeld von dieser Beziehung weiß. Eine Beziehung bar jeglicher sozialen Einbindung.
Manchmal war es so gewollt. Manchmal kommt es einfach so. Der inhärenten Bindungslosigkeit der Sozialen Medien entspricht eine verpflichtungsfreie Kommunikation, welche wiederum potenziell commitmentfreie Beziehungen entstehen – und vergehen – lässt.
Manch einer mag noch nicht mal geplant zu haben, so zu verschwinden. Doch das Angebot entsteht aus der Art der Begegnung heraus und ist scheinbar sehr verlockend: Dinge verschweigen zu können, die ein Fortfahren in der Beziehung (manchmal von Anfang an) unmöglich machen und sich im gewünschten Zeitpunkt aus der Beziehung zurückzuziehen, ohne sich Konflikten, Tatsachen oder dem Partner stellen zu müssen.
Es gibt Schätzungen, dass jeder Zweite, der Bekanntschaften über Soziale Medien schließt, von Ghosting betroffen ist, oder Ghosting schon begangen hat.*
Die Tatsache, dass vermehrt Menschen Therapeuten aufsuchen, weil sie mit den Folgen von Ghosting nicht klar kommen, ist ein Zeichen dafür, dass die Unverbindlichkeit nicht beiden Partnern klar war oder nicht von beiden gewollt; dass einer der Partner der Meinung war, eine richtige, enge, wertvolle Beziehung zu einem Menschen aufgebaut zu haben. Dass ein Verbundenheitsgefühl und der Glaube entstanden waren, dem anderen wirklich wichtig zu sein. Manchmal hatten beide Partner von Liebe gesprochen oder hatten eine sexuelle Beziehung oder verstanden sich als Paar. Oder gar alles gleichzeitig.
Es gibt durchaus Menschen, die sich angesichts einer solchen Verhaltensweise des Anderen einfach umdrehen können. Im Sinne von „Wer mich nicht liebt, ist mich nicht Wert.“.
Doch die meisten fühlen sich respektlos und gleichgültig behandelt, missbraucht, weggeworfen. Die stattfindende Abwertung wird als „zerstörend“ empfunden. Das Nicht-mehr-erreichen-können des Anderen, die plötzliche Unmöglichkeit von Nähe und Kontakt veranlasst viele zur Aussage „Ich glaube, ich drehe durch!“
Die Suche nach Orientierung und Selbstwirksamkeit bringt die meisten dazu, in der ersten Phase auf allen Kanälen auf die Suche nach dem Verschwundenen zu gehen, gegebenenfalls vorhandene Kontaktpersonen anzurufen, nachzufragen, nachzuspionieren. Manchmal werden sie sogar fündig. Um dann festzustellen, dass Bezugspersonen oder Freunde zur Verleugnung oder zum Schweigen verpflichtet wurden. In manchen Fällen versteckt sich die geliebte Person nicht allzu geschickt oder zu angestrengt. Um dann aber in aller Heftigkeit klar zu machen, dass kein Kontakt mehr erwünscht sei. – Das müsse doch schon längst klar gemacht worden sein…
Immer noch also gibt es keine Erklärung, keine Orientierung; ist keine Auseinandersetzung mit der Situation und dem betroffenen Partner möglich. Doch das Bedürfnis nach Orientierung ist eines unserer wichtigsten Beziehungsbedürfnisse. So wirkt die Erfahrung wie ein Pflug im Feld der Seele der Betroffenen. Nichts bleibt am Ort, nichts ist mehr klar.
Die Unmöglichkeit, den Verschwundenen mit der eigenen Erfahrung zu konfrontieren, ihm zu verstehen zu geben, welchen Schmerz er verursacht, die Unmöglichkeit, die eigene Wirklichkeit mit der Wirklichkeit des Anderen zu vergleichen, keine Informationen über die wirklichen Beweggründe, die Absichten und die Gefühle des Anderen zu haben, machen es für die Betroffenen oft monatelang unmöglich, die Erfahrung zu verarbeiten, die Wunden zu heilen, die Person loszulassen und im eigenen Leben weiter zu gehen.
Die Situation ist eine extreme Belastung für den Selbstwert jeder Person. Ist das Selbstwertgefühl ohnehin schon nicht sehr ausgeprägt, ist ein „Umdrehen und erhobenen Hauptes weitergehen“ oft nicht möglich.
Was kann Dir helfen, wenn Du von Ghosting betroffen bist?
- Als erstes die Erkenntnis, dass die vordringlichsten Fragen nie beantwortet werden werden. „Habe ich mir selbst etwas vorgemacht? Habe ich mich wirklich dermaßen in diesem Menschen getäuscht? Habe ich die Situation und die vielen Momente so falsch eingeschätzt? Was habe ich falsch gemacht? Habe ich etwas falsch gemacht? Was hat dazu geführt, dass man mich so behandelt?…“ Diese Fragen werden nie beantwortet werden. Auf jeden Fall nicht aus dem Blickwinkel und dem Standpunkt des Verschwundenen. Deshalb hilft es zu einem gewissen Grad, wenn Du, in Ermangelung der Aussicht auf Antwort, die Fragen fallen zu lassen versuchst.
- Verzichte darauf, darüber nachzudenken, was das Tun des Anderen über Dich aussagt! Was jemand tut, der „ghostet“ sagt nichts über Dich oder Deinen Wert als Mensch aus. Es sagt jedoch sehr viel über denjenigen aus, der Dich so behandelt. Es sagt, dass der Andere nicht mit seinen eigenen Gefühlen oder mit Deinen klarkommt, sich ihnen oder der Situation nicht stellen will oder kann. Er ist sich nicht über die Auswirkung seines Verhaltens im Klaren oder sie ist ihm evtl. einfach gleichgültig. Er ist aber in jedem Fall eines: nicht fähig, eine gesunde, reife Beziehung zu führen.
- Dann: Versuche, LOSZULASSEN! Es ist schwer, ganz klar. Kleine „praktische“ Schritte sind hilfreich:
- Versuche die ständigen Kontaktaufnahmeversuche zu beenden. Auch das ständige schauen, ob die Person irgendwo „online“ ist, hält Dich in der Situation gefangen.
- Rufe nicht immer wieder vorhandene Fotos auf, um Dich an Situationen oder das Gesicht der Person zu erinnern. Lese für eine Weile keine alten Messages oder Briefe, verzichte darauf, Musik zu spielen, die ihr gemeinsam gehört habt. Kreiere Abstand. Alle diese Aktionen würden die alten Gefühle wieder aktivieren, den ganzen Cocktail an Botenstoffen und Hormonen im Hirn, und Du wirst wieder „rückfällig“. (Liebeskummer ist tatsächlich betreffend die Vorgänge im Hirn eine Art „Entzug“ – bis Du darüber hinweg bist, solltest Du also besser von Erinnerungsstücken Abstand halten oder sie vernichten/jmdm zur Verwahrung geben).
- Versuche, Dich abzulenken, in den Momenten, wo die Situation schwer auszuhalten ist. Damit sind keinesfalls suchterzeugende Aktivitäten oder Stoffe gemeint, sondern Unternehmungen und Aktivitäten, die Dir Spaß machen.
- Sorge auch sonst gut für Dich: Tu Dinge, die Du gut kannst, bei denen Du Anerkennung erfährst, Dinge die Dir gut tun, bei denen Du Kontakt zu anderen und zu Dir selbst erlebst und Sinn. Dein Selbstwert ist angeschlagen, er braucht ganz viel “ Futter“ jetzt.
- Rede mit Freunden oder anderen Personen, die Dir urteilsfrei zuhören. Falls es keine solchen Personen gibt, scheue Dich nicht professionelle Hilfe zu suchen.
- Gib Dir auch immer wieder Gelegenheit, den Schmerz zu spüren, ohne Dich jedoch hineinfallen zu lassen. „Ich habe Schmerz, ich bin aber nicht mein Schmerz“ ist eine hilfreiche Haltung, die uns ausreichend Abstand nehmen lässt, ohne den Schmerz zu unterdrücken.
- Manche empfinden es als „Erlösung“, wenn sie realisieren, dass sie nicht Ursache des Verhaltens des Anderen gewesen zu sein brauchen – dann wird plötzlich möglich, dass aus Verzweiflung Empörung wird. Wutausdrücke oder beschimpfende Worte über den Verschwundenen werden dann oft als kurzfristig erleichterne Reaktionen genutzt. Doch auf längere Sicht hilft nur eins: Auch den Groll loszulassen. Groll bindet uns gedanklich und emotional ständig und immer wieder neu an den Anderen. Die Einsicht, dass wir durch das Hegen von Groll Negatives in uns nähren und bei uns behalten, hilft oft, dass das Loslassen etwas leichter wird. Manchmal lässt auch der Gedanke, dass da ein Mensch ist, der „nicht anders konnte“ oder auch in seinem „nicht anders wollen“ einfach keine anderen Fähigkeiten hatte, uns versöhnlich werden und Vergebung möglich. Vergeben ist ein Akt des Willens, doch manchmal braucht es Zeit, bis es möglich ist, diesen aufzubringen.
- In manchen Fällen wiegt die Trauer über den Verlust des geliebten Menschen schwerer als jede andere Emotion. Schließlich ist da jemand verloren gegangen, der Dir viel bedeutet hat, der wertvoll für Dich war, dessen Existenz Dich ausgefüllt hat. In Gegenwart und in Gedanken. Zeitlich wie auch gefühlsmäßig. Der jetzt eine Lücke hinterlässt. Dieser Verlust verlangt Trauerarbeit, Zeit und Geduld.
- Zum Schluss: Lehne die Opferrolle blankweg ab. Ganz einfach aus dem Grund, dass ein Opfer dem Tun des anderen ausgesetzt ist. In dieser Rolle bist Du „ausgeliefert“, „hilflos“, „passiv“. Wenn wir uns eingestehen, dass wir zumindest dadurch Täter werden, dass wir von den Handlungen des Anderen unser Befinden abhängig machen, dann können wir in diesem Bereich anfangen, Veränderungen vorzunehmen. Wir müssen uns im Klaren sein: Das Verhalten und die Reaktionen des Anderen können wir nie steuern – sie liegen immer außerhalb unserer Kontrolle. – Aber wie wir mit uns selbst umgehen, ob wertschätzend oder abwertend, das liegt in unserer Hand.
Und so kann vielleicht die Erfahrung, „geghostet“ zu werden zu einer Chance werden.
Einer Chance, Selbstfürsoge zu erlernen. Denn selbst wenn wir tatsächlich keine Möglichkeit mehr haben, die Beziehung zu diesem Menschen zu gestalten, haben wir immer die wunderbare Gelegenheit, die Beziehung zu uns selbst zu verändern:
- Besser auf die eigenen Bindungsbedürfnisse zu achten und darauf Rücksicht zu nehmen, wenn wir überlegen, ob ein Partner zu uns passt oder nicht.
- Die eigenen Bedürfnisse als wichtig genug erachten, um uns den Menschen zuzuwenden, die bereit sind sich mit uns auseinanderzusetzen und auch mit Problemen und Unstimmigkeiten, falls welche auftauchen.
- Unsere Bedürfnisse klar zu artikulieren und Grenzen setzen zu lernen, freundlich aber bestimmt, dort, wo darauf keine Rücksicht genommen wird oder ihnen ausgewichen wird.
- Menschen zu suchen, die sich nicht bedroht fühlen durch Nähe, Verantwortungsübernahme oder dadurch, sich verletzlich zu zeigen.
Wir sind alle verletzlich. Und wir können nicht vermeiden, verletzt zu werden. Doch wenn wir Selbstfürsorge an erste Stelle stellen, dürfen wir gleichzeitig verletzlich bleiben und gleichzeitig offen für neue Beziehungen.
Für die 50% Angabe und für weitere Fakten im Post siehe: Jennice Vilhauher Ph.D. „Why ghosting hurts so much“ in www.psychologytoday.com